Die Erzählung von der Lebensmittelverschwendung: Kleiner Faktencheck
Dawillichleben, im Mai 2022 - "Über 50 Prozent aller verschwendeten Lebensmittel werden zu Hause weggeworfen", so zitierte im September 2021 das Portal ‘t-online‘ den Agrarwissenschaftler Thomas Schmidt.
Diese Erzählung ist wohlfeil, man kann sie sich ähnlich von überall herbeigoogeln.
Heute schob ich unsere Biotonne an den Straßenrand. Dabei ging mir das durch den Kopf.
Die Probe aufs Exempel: Was werfen wir weg?
Ich entschied mich zu einer spontanen Stichprobe. Ich wollte einmal abschätzen, was wir -sowie eine andere Mitbewohnerpartei- in der vergangenen Woche in dem Gefäß hinterlassen haben. Wenn das mit den „50 Prozent verschwendeter Lebensmittel aus den Privathaushalten“ richtig ist, so dachte ich, dann müsste unsere Biotonne dies bezeugen können.
Ich öffnete den Deckel. Sie war nicht mal zu 1/3 gefüllt. Von 80 Litern waren das also ungefähr 25 Liter. Ich legte das Gefäß auf die Seite. Mit einem Gartengrubber (einer Art Rechen mit drei hakenförmigen Zinken dran), stocherte und wühlte ich nun in dem schmierigen Inhalt unserer Biotonne umher (werks). Ich zog das Zeugs auseinander, um den Inhalt besser identifizieren zu können.
Das Ergebnis meiner Sichtung: Weit über die Hälfte des Inhaltsvolumens unserer Biotonne bestand erstmal gar nicht aus weggeworfenen Lebensmitteln, sondern aus Gartenresten, zum Beispiel einigen gezupften Unkrautbüscheln, zusammengekehrten Laubresten vom Herbst, einigen Erdballen, die vom Ausmustern einiger Blumentöpfe her stammten. Dazu ein paar zusammengeknüllte Papierküchentücher, Fetzen von Zeitungspapier.
Das weggeworfene Essen, das ich identifizieren konnte, bestand zum weit überwiegenden Teil aus Verschnitt vom Gemüse- und vom Salatputzen. Ich sah Schalen von: Kohlrabi, Spargel, Kartoffeln, Zwiebeln; Blätter von Blumenkohl; Zitronenhälften; Eierschalen; Apfelsinenschalen. Weiterhin konnte ich den Inhalt einer halben Packung Toastbrotscheiben wiederentdecken – diese hatte ich vor kurzem höchstselbst in den Biomüll verfrachtet, wegen Überlagerung. Und es gab einige vereinzelte Nudeln zu entdecken.
Grob geschätzt, war wohl weit weniger als die Hälfte des Inhalts unserer zu 1/3 gefüllten Biotonne der Sparte „Essensreste“ zuzuordnen.
Verzehrfähiges „weggeworfenes Essen“ habe ich aber bei meinem Stichversuch so gut wie nicht entdeckt (Ausnahme: die Toastbrotscheiben. Und die Nudeln).
Verschwendete Hühnerknochen
Wie kam aber nun die Aussage zustande, es würfen die deutschen Privathaushalte „50 Prozent“ der insgesamt entsorgten Lebensmittel weg? Die Erklärung fand ich auf der Homepage des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL). Dort wird dazu unter der Rubrik „Ernährung → Lebensmittelverschwendung“ erklärt:
„Der Großteil der Lebensmittelabfälle entsteht mit 52 Prozent (6,1 Mio. Tonnen) in privaten Haushalten - dazu gehören neben übrig gebliebenen Speiseresten z. B. auch Nuss- und Obstschalen sowie Knochen“.
Nach dieser Definition sind also neben „Nuss- und Obstschalen“ auch unser weggeworfener Kohlrabiverschnitt, Salatputzreste, Bananenschalen, Hühnerknochen und Fischgräte der „Lebensmittelverschwendung“ zuzurechnen. Nur derjenige wäre demnach kein „Lebensmittelverschwender“, der seine Kohlrabi, Steckrüben, Melonen und Bananen vollständig verzehrt, also inclusive aller Schalen und Kerne. Und das Brathähnchen mitsamt der Knochen.
Anders gesagt, gibt es nach der Definition des BMEL immer und stets „Lebensmittelverschwendung“. Einfach, weil man dort offenbar in voller Absicht auch den ungenießbaren Küchenabfall unter „Lebensmittelverschwendung“ führt. Kein Wunder also, dass man so auf „50% der weggeworfenen Lebensmittel durch Endverbraucher“ kommt.
Bedenklich finde ich, dass die Erzählung von den über 50 Prozent „Lebensmittelverschwendung durch Endverbraucher" weiterverbreitet wird, de facto Allgemeinwissen ist, ohne dass die fragwürdige Zahlenangabe je näher hinterfragt wird.
Was somit bei den Konsumenten alleine haften bleibt, sind ihre ständigen Schuldgefühle ob der unreflektierten Erzählung, dass sie angeblich für rund 50% weggeworfener Nahrungsmittel verantwortlich sind. Trotz des Hungers anderswo auf der Welt. Dass sie somit rücksichtslos die Natur ausbeuten. Das Klima schädigen. Einfach, indem sie Kohlrabi schälen, Bananenschalen und Hühnerknochen wegwerfen.
Grundsätzlich kann ich mir durchaus vorstellen, dass der tatsächliche Anteil deutlich höher liegt, als in deiner Biotonne. :-)
Einmal ist nicht jeder so vorbildlich und verbraucht bis auf minimale Mengen alles essbare. Ich habe persönlich Familien kennengelernt, die kein Resteessen am Abend kennen. Da werden tatsächlich übrig gebliebene Kartoffeln vom Mittag weggeworfen!
Anderseits muss man notgedrungen zu den weggeworfenen Lebensmitteln auch diejenigen zählen, die den Laden nicht durch die Vordertür verlassen haben. Und ich denke, da kommt auch ein beträchtlicher Anteil zusammen. Hm, nachdem ich die BMEL-Seite aufgemacht habe, kann ich den angeblich geringen Anteil im Einzelhandel gar nicht glauben...
Unabhängig davon finde ich es allerdings schändlich, wenn man seitens des Ministeriums die (für den Menschen) unverzehrbaren Lebensmittel in den Anteil der "Lebensmittelverschwendung" einbezieht. Das fördert nicht gerade die Glaubwürdigkeit, wie man anhand deines Beitrages sieht.
Aus meiner Sicht kommt noch dazu, dass in den privaten Haushalten auch die größten Mengen Lebensmittel verarbeitet werden. Ob das in der Studie gegenübergestellt wurde, wage ich zu bezweifeln...
"Anderseits muss man notgedrungen zu den weggeworfenen Lebensmitteln auch diejenigen zählen, die den Laden nicht durch die Vordertür verlassen haben."
Nein, das stimmt hier nicht. Diese Lebensmittel zählt das BMEL gesondert auf.
Ja, dass hatte ich nachher auch gesehen. Kann ich gar nicht glauben, dass der Anteil dabei so gering sein soll...
Während ich deinen Beitrag las und von deiner mikro-kleinen Stichprobe, da dachte ich zuerst noch: okay, es kann ja 1. sein, dass a) in deiner Tonne zufällig an diesem Tag wenig drin war und/oder b) viele Leute die Essensreste in dem Allgemein-Müll hauen. Oder es könnte 2. sein, dass das Gesamtvolumen an Bio-Mülltonnen gar nicht die Quelle ist für die Angabe der angeblichen 50 %.
Was aber soll dann die Quelle sein?
Beim Weiterlesen über deine Recherchen (Angaben laut BMEL) ergibt sich keine Antwort auf diese Frage. Soundsoviel Tonnen - wovon??
Zur kleinen "Ehrenrettung" sei auf die Formulierung
verwiesen, allerdings macht das unter der Rubrik "Lebensmittelverschwendung" nur Sinn, wenn die Abfälle dann weiter aufgeschlüsselt werden im Sinne des noch Genießbaren.
Letztlich also Propaganda!
Wozu? Wozu?? Ich begreife es nicht...