Minimalismus – neuer Lebensentwurf oder doch nur Trend?
Momentan ist Minimalismus in aller Munde. Er wird als der neue Lebensentwurf gefeiert und in zahlreichen Blogs, Videos, Dokumentationen und Podcasts der Welt vorgestellt.
Immer mehr Menschen hinterfragen, warum man viel Zeit damit verbringen soll, Dingen nachzujagen, die dem Leben nicht mehr Sinn verleihen, die nicht glücklicher machen. Von Gehalt zu Gehalt zu leben, um dem Konsum zu frönen. Dauerhaft Erfüllung finden sie darin nicht. Ein kurzer Moment der Glückseligkeit, das war’s.
Der Minimalismus soll einen Ausweg bieten, das Schlüsselwort ist Konsumverzicht. Durch das Aussortieren und den bewussten Verzicht auf Konsum soll man innere Ruhe finden und ein selbstbestimmteres Leben führen können.
Auch ich fand an der Idee gefallen. Ausgemistet habe ich immer gerne, dennoch hat sich viel Kram angehäuft. Wie in einem vorherigen Post erwähnt, habe ich es mit dem Konsum zeitweilig übertrieben und saß schließlich auf einem Stapel von Sachen, die ich nicht mochte und definitiv nicht brauchte. Angefangen habe ich damit, Kleidung, die ich nie oder nur wenig getragen habe, bei Kleiderkreisel zu verkaufen. Dort bin ich auf den Thread „Aussortieren - Minimalismus“ gestoßen und bekam neue Anreize. Nicht nur Klamotten waren in meinem Leben überflüssig, auch Unmengen von Büchern, die ich nie wieder lesen werde, jede Menge Plunder, der uralt oder kaputt war, den ich von Umzug zu Umzug mitgeschleppt habe. Immer den Gedanken im Hinterkopf, man könne das ja irgendwann nochmal brauchen. Ich verfiel in einen Aussortierrausch. Das Entrümpeln wurde zum Selbstzweck. Ich liebte es, Altes aus meinem Leben werfen, so sehr wie zuvor das Einkaufen.
Das Ausrangieren war nur die halbe Miete. Das Zeug musste auch weggeschafft werden. Für den Müll war es zu schade und so verbrachte ich einen Großteil meiner Freizeit auf mehreren Verkaufsplattformen: Artikel fotografieren, präzise beschreiben, verpacken, versenden, wieder neu hochladen, wenn sie nicht verkauft wurden. Schließlich wollte man aus dem Krempel etwas Kapital schlagen.
Im oben genannten Thread wurde mir „Magic Cleaning“ von Marie Kondo empfohlen. Sie schreibt davon, dass man jedes einzelne Teil in die Hände nehmen, überprüfen soll, ob es einen glücklich macht und danach entscheidet, ob es gehen muss. Da wurde mir der Irrsinn bewusst. Wie soll mich denn bitte ein Teller glücklich machen? Oder die Bürste, mit der ich meine Schuhe putze? Es ergab keinen Sinn und führt nicht zu einem selbstbestimmten Leben. Der Aussortierwahn nahm überhand.
Ich begann über das Thema Minimalismus zu reflektieren: Er passt ideal zur heutigen Zeit, in der man alle paar Monate den Wohnort und Job wechselt. Die Umzüge gingen immer leichter vonstatten. Mittlerweile reicht eine Autofahrt, nicht mehr wie anfangs zehn. Man ist flexibler und spontaner, muss sich nicht mehr binden und keine dauerhaften Entscheidungen treffen. Man kann seine Sachen packen und gehen, ohne viel Organisation im Vorfeld. Man jagt keinen Trends hinterher, das Outfit ist rasch gewählt und der Wohnungsputz beansprucht weniger Zeit, weil nicht erst unzählige Dekoartikel hin und her gerutscht werden müssen.
Aber es gibt Grenzen: Meine sind Erinnerungsstücke, Fotos von der Familie, den verstorbenen Großeltern, die Bücher aus der Kindheit. Ich will mich nicht davon trennen, denn diese Dinge sind Teil meiner Vergangenheit und mit schönen Erinnerungen verknüpft. Da spielt es keine Rolle, ob ich sie regelmäßig in die Hand nehme.
Im Zuge der Recherche bin ich auch auf radikale Verfechter des Minimalismus gestoßen, die der Meinung sind, man dürfe nur 7 Paar Socken, 7 Unterhosen und xx sonstige Kleidungsstücke besitzen. Dass alles wegmüsse, was nicht lebensnotwendig ist. Ich finde es toll, wenn Leute in ihrer nahezu asketischen Lebensweise aufgehen. Aber das gilt nicht für jeden. Andere Menschen, andere Prioritäten. Wenn man seine Bibliothek liebt, warum weggeben? Minimalismus heißt für mich, das Augenmerk auf Wichtiges zu legen, nicht auf irgendeine Anzahl von Dingen und erst Recht nicht, fremden Menschen den eigenen Lebensentwurf aufzudrängen.
Wenn jedoch der Aussortierwahn den Konsumrausch ablöst, läuft etwas falsch. Soll man sich nicht weniger mit seinen Sachen beschäftigen, anstatt viel Energie zu investieren, sie zu kaufen und dann wieder loszuwerden? Sich die Mühe machen, jedes einzelne Teil wieder an den Mann zu bringen? Täglich Zeit bei der Post und diversen Paketdiensten vertrödeln? Was hilft es mir nach der perfekten Jeans zu suchen, wenn ich monatelang dafür brauche und doch keine finde, die meinen Ansprüchen genügt?
Damit habe ich aufgehört. Wenn sich noch etwas zum Aussortieren findet, wird es gespendet. Überall stehen offene Bücherregale, es gibt Sozialkaufhäuser oder man stellt das Zeug mit einem „Zu verschenken“-Schild an die Hausecke. Konsum soll nur noch in Maßen stattfinden und dann bitte Spaß machen. Er soll auch nicht mehr als Belohnung dienen (außer es ist ein Gin Tonic). Bei jeder Neuanschaffung hinterfrage ich erst mal, ob ich das Teil wirklich brauche (besonders bei Kleidung und Kosmetik), ob es mir Freunde bringen oder ob es nützlich sein wird. Kann ich eine dieser drei Fragen ehrlicherweise mit ja beantworten und habe ich mindestens eine Nacht drüber geschlafen, wird es gekauft. Ich jage nicht mehr nach den perfekten Dingen; wenn die Zeit reif ist, kommen sie zu mir.
Erstens super geschrieben. Zweitens fällt mir selbst im Klugscheißermodus nix ein, was aus meiner Sicht hinzuzufügen wäre!
Wow, vielen Dank ;) und auch ein fettes Merci für den Resteem :D
liebe Patricia, vielen dank für deinen artikel. er gefällt mir sehr. gleich geht mir meine eigene situation durch den kopf. ich habe den eindruck, jede art zu leben würde kommerzialisiert. zu dieser und jener haltung wird ein buch herausgebracht, im ratgebermodus natürlich, denn an allem lässt sich etwas optimieren und allen voran, dem eigenen leben. es beginnt immer damit, das man bei sich selbst beginnt. und fummelt und fummelt, hier und da noch frickelt und anstatt sich letztlich zu befreien nur noch unfreier macht. beachte dies, beachte jenes, frage dich... ach, einfach alles. besser noch ist hinter-fragen.
mancher nagelt sich so selber ein brett vor den kopf, malt es schön an und zeigt sekündlich mit dem finger drauf, als wäre es ein aushängeschild. seht, ich lebe richtig, bin total entspannt, ich weiß wie's geht.
in der begegnung solcher menschen empfinde ich dann oft das gegenteil. verhirnte, verkrampfte und fast blinde ansichten, engstirnig und intolerant. auf teufel komm raus eine sache vertretend, die unbedingt richtig ist. man kommt gar nicht mehr dazwischen. wenn es einen stecker gäbe, ich würde ihn gern ziehen oder am ventil die luft rauslassen.
so vieles dient dem zweck, sich selbst zu dienen, der stabilität wegen. es ist nicht einfach, seinen inneren frieden zu finden und so führt die suche danach mitunter auf verquere wege. ich glaube, der schlüssel ist, sich eingestehen zu können, das man sich verirrt hat. vielleicht bin ich nicht der, der ich gern wäre. vielleicht kann ich gar nicht sein, was alle welt erwartet. vielleicht weiß ich überhaupt nicht, wer ich bin.
ich selber komme immer wieder an diesen punkt. und umso älter ich werde, umso schwerer fällt mir die einsicht, das ich vielleicht nicht ganz so richtig lag, ich mich verrannt hab sozusagen. und darum mag ich deinen post. ich lese etwas von mitte, von ausgeglichenheit oder wenigstens den hauch davon. es bringt nicht viel, sich selbst in stein zu meißeln - so sehe ich die welt und aus die maus. das hat was von extremen. doch meistens gehört man irgendwo dazwischen. wohl dem, der sich und was er denkt von zeit zu zeit einer realität anpassen kann, die sich beständig ändert. lg.
Erst mal vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar und den Resteem!
Deine Worte regen mich gerade sehr zum Denken an. Mit der Kommerzialisierung jeder Art zu Leben stimme ich dir vollkommen zu, für jeden Sch*** gibt es mittlerweile Ratgeber. Auch ich habe einige davon gekauft, von den "Kommerzratgebern" bis hin zu Psychologielehrbüchern. Gebracht hat es mir nichts. Also hab ich damit aufgehört.
Wenn mir so ein Mensch begegnet, der die einzig richtige Lebensweise propagiert, schalte ich ehrlicherweise sofort auf Durchzug - denn die "Richtige" gibt's einfach nicht.
Mit dem Schlüssel, dass man sich eingestehen muss, dass man sich verirrt hat, hast du Recht. Da triffst du bei mir gerade echt einen Punkt. Ja, es braucht erst die Erkenntnis und dann kann man die nächste Abzweigung nehmen.
Danke für deine weisen Worte.
LG
Liebe Patricarok, schön geschrieben, danke!
Ich bin auch schon lange mit viel Freude in das Thema Minimalismus abgetaucht. Hab von Beginn an alles verschenk, gespendet und Bücherboxen mehrmals regelrecht vollgestopft.
Doch bis zur Spitze des Minimalismus treibe ich es nicht – vor allem liebe ich das ein oder andere "unnütze", "überflüssige" Ding, wie zB Kunst, ein zweites Kopfkissen oder Pflanzen ... also dürfen sie bei mir bleiben. ;)
Einen minimalistischen Ansatz in sein Leben empfand ich nicht schwer, im gegenteil: Es war das reinste Vergnügen. Was ich allerdings schwer finde, ist Minimalist zu bleiben. So viele Leute schenken mir zu diversen Anlässen immer wieder mal kleine oder auch große Aufmerksamkeiten in Form von Stuff. Es hilft oft auch nicht meine Umwelt im Vorhinein zu briefen.
Danke! Das ist sehr toll, dass du deine "überflüssigen" Dinge behältst, genau das mache ich auch! Mir egal, ob man mich jetzt als Minimalist bezeichnet, aber ich hab meine Wohlfühlmenge erreicht.
Da hab ich leider keinen Tipp für dich außer die Sachen wieder weitergeben. Mein Umfeld ist da sehr toll, kennt mich und fragt vorher oder es gibt was Ess-/Trinkbares oder Blümchen.
und natürlich auch vielen Dank für den Resteem! Freut mich sehr!
Für mich war Minimalismus eher ein Konzept das ich auf Ideen (oder Musik ^^) bezogen habe, aber selten auf meine materielle Umwelt. Aber tatsächlich finde ich wegschmeißen sehr befreiend.
Ich pflege die Gegenstände in meiner Umwelt selten ordentlich, daher eignen sie sich oft nicht zur Weitergabe und ich habe auch schon oft gehört das Spendenorganisation das Gespendete meist zu dumping preisen verkaufen und damit ausländische Wirtschaftssysteme (z.B. Textilindustrie) schädigen.
Das hört sich bei dir eh so an, als hättest du deinen Weg gefunden. Stimmt, man muss bei Spendenorganisationen aufpassen und sich vorab informieren, wohin das Zeug bzw. die Gelder wirklich gehen und was das unter Umständen auslösen kann. Daher handhabe ich das jetzt auch so, dass ich bewusst kaufe und Kleidung trage bis sie kaputt ist. Ansonsten sind Sozialkaufhäuser wie z.B. die von Oxfam eine gute Anlaufstelle.
Ich finde mich in deiner Philosophie völlig wieder und begrüße es, dass du es für dich selber interpretieren konntest, anstatt dabei blind einem neuen radikalen Ideal zu folgen (:
Viel Spaß bei zukünftigen Aussortiersessions (falls noch was übrig sein sollte) und liebe Grüße (: