Unerwartete Evakuierung aus der Wohnung – Ein Erfahrungsbericht [Zivilschutz Teil 2]

in #deutsch6 years ago

Zum Konzept meiner kleinen Reihe "Zivilschutz"
Ich möchte hier von Erlebnissen berichten, die mit dem umfassenden Konzept 'Zivilschutz' zu tun haben. Dies soll einerseits dazu dienen, Zivilschutzthemen etwas mehr öffentlichem Raum zu gewähren. Andererseits sollen aber besonders anwendungsbetonte Inhalte, die sich von Panikmache (z.B. 'Zombieapokalypse') und Marktschreierei (vielfach leider (!) unter dem Aspekt 'Prepping' verkauft) deutlich absetzen, vorgestellt und mit euch, liebe Steemians, diskutiert werden.

Ich wohne in keinem klassischen Krisengebiet nach östereichischen Maßstäben (z.B. kein Flut-, Erdbeben-, Murengebiet) und war daher selbst überrascht, wie sehr sich Zivilschutzthemen immer wieder hier gezeigt haben. Ich bin daher davon überzeugt, dass solche und noch weitaus schlimmere Sachen alltäglich einigen Menschen passieren und passieren können – und dennoch die Aufmerksamkeit auf die 'kleinen Katastrophen des Alltages' in der Öffentlichkeit fehlt. Daher liegt der Fokus in dieser Reihe auf ganz alltägliche Ereignisse und ebenso simple Lösungsvorschläge.

Wenn jemand von euch aber professionellen Rat weiß oder sonstwie einen gewissen Erfahrungsschatz zu teilen hat, dann bitte: Immer her damit! Hier lesen und schreiben jene mit, die lernen wollen!

Erster Teil: Zivilschutz oder 'Prepping'?

Erlebnisbericht einer unerwarteten Räumung einer Wohnhausanlage

Die Situation
Wir sind zu dritt (+ eine Katze) und wohnen in einer Wohnung im x-ten Stock, ganz oben und ohne Lift. Es ist Winter. Nach einem anstrengenden Arbeitstag sitze ich abends noch mit meinem Kind am Fußboden und spiele mit ihm. Eigentlich wäre es schon Schlafenszeit für das Kind; das verrät mir nicht nur der Blick auf die Uhr, sondern auch der Blick in die immer kleiner werdenden Kinderaugen. Irgendetwas sagt mir aber, noch ein bisschen durchzuhalten...seltsam.

In der Entfernung das Heulen der Sirene der Freiwilligen Feuerwehr. Wir kennen es und es ist völlig normal für uns. Haben wir Besuch von Bekannten aus der Stadt da wundern sie sich schon mal über die Sirene, die sie an das Warnsignal eines Bombenalarms erinnert. Ich warte nur kurz, ob eh das typische dreimalige Auf-und-ab-Signal kommt und nicht etwa eine Dauersirene.

Kurze Zeit später: lautes Trampeln am Stiegenaufgang – sind das die nicht ungewohnten Klänge, die uns die Nachbarn beinahe täglich bescheren? Es klopft. Nein, etwas schlägt gegen die Tür! Tritt da etwa wer gegen unsere Türe?! Laute Rufe – will die Polizei stürmen? Warum sollte sie das bei uns machen?!

Wieder spricht das Gefühl, die Intuition: "Bleibe ruhig, es ist gut." Ich öffne die Türe und schiebe gleichzeitig die Türkette zur Seite und schaue in eine Gasmaske, einen Helm und feste Schutzbekleidung. "Alles raus! Sie müssen raus!!" ruft die schnaufende Stimme und noch bevor ich eine Antwort des jungen Feuerwehrmannes auf meine Frage nach dem "Was ist passiert?" bekomme, kenne ich schon die Antwort: Er hat gegen die Tür getreten und mehrfach geklopft; andere seiner Kollegen tun es in diesem Moment ebenso bei den Nachbarn weiter unten, die offensichtlich nicht da sind – er hat nicht die Türglocke benutzt. "GAS! Gasalarm! Alle müssen raus!!" Das Benutzen der Türklingel hätte einen Funken erzeugen können, der – in Kombination mit Gas – entzündlich wäre. Das wusste ich und ich war über mich selbst überrascht, wie selbstverständlich dieses Wissen in dieser hektischen, aufregenden und komplett ungewohnten Situation meinem Bewußtsein zur Verfügung stand.

Alles klar. Aber da gibt es ein paar Probleme: Ich will nicht, mein (Klein!)kind ist müde, meine Freundin schaut mich verängstigt an und wir haben nicht den Vorsprung, den unsere anderen Nachbarn haben. Wir waren sichtlich die Letzten, die informiert wurden und der Aufregung im Stiegenhaus zufolge, wird niemand darauf Rücksicht nehmen, dass wir in dieser Konstellation die Langsamsten sind.

Außerdem: So klar mir die unmittelbare Situation und ihre Folgen auch waren, so kannte ich nicht genau die Gefahr. Kommen wir ohne Gasmaske die x Stockwerke runter? Wie stark ist der Gasaustritt? Wo wurde er festgestellt? Nachdem wir ganz oben sind, ist das in jeglicher Hinsicht ein Problem.

Also alles raus. Aber haben wir alles? "Wo ist die Katze?" – Keine Ahnung. "Wir müssen raus. Zieh Dir eine Jacke an, Schuhe! Das Kind auch. Und ein Stofftier!" In diesem Augenblick merke ich, dass mir unser großer Fluchtrucksack, der gleich gegenüber der Eingangstür steht, so fremd, so unbekannt vorkam, dass mir in diesem Moment kein Grund einfiel, ihn umzuschnallen. Würde mir dieses Ungetüm in dieser Situation wirklich etwas bringen?

Verrückt! Jetzt gibt es tatsächlich einen Grund sich einen Fluchtrucksack mit zu nehmen und ich lasse ihn liegen. Schnell den Ausweis, Telefon, Schlüssel, Taschenlampe (Warum die denn?! Ich nehm' sie einfach mit...), Schuhe, Jacke. Noch einmal zurück ins Wohnzimmer. "Nein, die Katze sehe ich nirgendwo!" Bei unserer recht großen Wohnung wäre die Suche nach ihr eine zu große Gefahr für mich und uns geworden. Wir wissen ja noch immer nicht wie schlimm (oder nicht) es wirklich ist. Draußen, am Gang, weiterhin: Klopfen, Rufe, Geräusche aus den Funkgeräten, festes Treten gegen Türen und ganz viel Bewegung.

Also raus bzw. runter! Die x Stockwerke brauchen eine halbe Ewigkeit. Feuerwehrmänner stehen mit ihren Gasmasken und den Sauerstoffflaschen am Rücken in jedem Stockwerk und wir? Ja, wir rennen mit dem, was wir so an uns haben in einer möglicherweise tödlichen Gaswolke in eine ungewisse nächste Situation. Was passiert, sobald wir draußen sind? Und wieder diese Überraschung über meine Reaktion: Bei solchem Stress solche Gedanken? (Eine solche Ruhe und Klarheit würde ich mir bei anderen Stressituationen, wie dem wöchentlichen Einkauf im Supermarkt wünschen...)

Draußen!
Nachdem wir alle draußen waren, versuchte die Feuerwehr immer noch in ein paar Wohnungen rein zu kommen. Die Leute dürften nicht da sein, aber es wusste einfach niemand eindeutig. In Wohnhausanlagen kennt man sich eben doch nicht immer so gut, wie man es vielleicht glauben könnte.

Das Kind ist ruhig, Gott sei Dank! Freundin ist auch gefasst. Unsere Nachbarn von nebenan sind auch da. (Vorsicht, die rauchen viel! Hoffentlich kommen sie jetzt nicht auf blöde Gedanken.) Draußen ist es kalt, aber die Wärme der Wohnung und der Jacken sowie durch die Aufregung hält die ersten Minuten noch an. Aber dann?

Es gibt sichtlich einige Aufregung, weil nicht alle Wohnungstüren geöffnet wurden und niemand weiß, ob diese Personen überhaupt zu Hause sind. Ein Nachbar wurde immerhin aus der Badewanne aufgeschreckt – es ist also alles möglich!

Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie es dazu kam, dass ich ein paar Feuerwehrmännern den Zugang zur Rückseite des Hauses zeigte, der übrigens durch ein Baugerüst und Sperrgitter zu einem sehr engen Parcours für die Männer in der schweren und dicken Schutzkleidung wurde. Aber jetzt kam endlich die einigermaßen leistungsstarke Taschenlampe in Verwendung, nicht nur, um sich überhaupt in der Dunkelheit orientieren zu können, sondern auch um den Feuerwehrmännern zu deuten, wo die von ihnen gesuchten Wohnungen sind. (In keiner brannte ein Licht, also mussten sie davon ausgehen, dass die Personen auch wirklich nicht da waren. Dennoch probierten sie es noch eine zeitlang weiter.)

Weg von der Gefahrenzone! Und was jetzt?
Von der unmittelbaren Gefahr haben wir uns also entfernt. Die Sorge galt nun wieder der Katze. Ob man nicht doch noch schnell hinaufrennen kann, um sie zu holen? Nein, aussichtslos. Wir müssen das jetzt so akzeptieren. Aber wie soll es weiter gehen? Die Garage ist mit Feuerwehrautos versperrt und...tatsächlich! Den Autoschlüssel hatte nicht mit! Wie konnte das nur passieren?!

Nach einiger Zeit des Wartens kam die Nachricht, dass der nahegelegene Pfarrhof für uns geöffnet hat. Aber niemand wollte hin. Alle blieben vor dem Haus stehen und warteten und schauten auf die geschäftigen Feuerwehrmänner und -frauen. Allerdings waren wir auch die einzigen mit einem Kleinkind und das ist etwas anders. Also weg von hier, wenigstens die Freundin mit Kind. Eine Verwandte wohnt in der Nähe, die Telefone haben wir ja mit.

"Ja, nehmt das Taxi, ich bleibe hier und warte darauf, dass wir irgendwelche Informationen bekommen. Aber gib telefonisch durch, wo welche Straßen gesperrt sind!" Nur: welche sind gesperrt?? Irgendwie hatten die beiden es kurz danach geschafft, das Taxi kam, sie stiegen ein. Die Bezahlung aber, die musste die Verwandte übernehmen, denn das Geld hatten wir auch nicht mit!

Was ist passiert?
Um hier einen sehr langen Abend kurz zu halten: Ich blieb noch in der mit Blaulicht getränkten Dunkelheit mit den Nachbarn stehen, lernte einige neu kennen und wartete schließlich auf die Freigabe des Hauses. Die kam dann auch, nachdem uns der freundliche Herr von einer Gasfirma darauf hingewiesen hat, dass er überall gemessen hatte und nichts festgestellt werden konnte. Die Hausbesorgerin hatte den Alarm ausgelöst, weil sie meinte, Gasgeruch festgestellt zu haben. Da musste natürlich gehandelt werden...

Ein Nachspiel hatte die Angelegenheit wenige Wochen später. Es war freilich noch immer Winter. Wir hörten wieder das schwere Stapfen auf den Stiegen, Signale von Funkgeräten im Gang. Der Blick aus dem Fenster offenbarte uns tatsächlich wieder das blaue Signalmeer vor der Haustür. Trara, die Feuerwehr ist wieder da!

Diesmal schlug ein Gasmelder an, den sich ein junges Paar aufgrund des letzten Einsatzes gekauft hatte. Die Feuerwehr löste es jetzt aber anders als zuletzt: Sie gingen direkt zur Quelle und fanden heraus, dass das neue (!) Gerät fehlerhaft war. Wir warteten wiederum im Stiegenhaus, schon fix fertig angezogen auf den 'Räumungsbefehl', der dann glücklicherweise nicht kam. Gut so, denn mein Kind schlief dieses Mal nämlich schon...

Nacharbeit: Was hat funktioniert?
Warum verband ich das Nicht-Betätigen der Türglocke mit dem Gasalarm?
Ich hatte schlichtweg darüber gelesen! Wenn ich mich richtig erinnere, war das in Unterlagen vom Österreichischen Zivilschutzverband. Jedenfalls hatte ich es so verinnerlicht, dass das Wissen zur richtigen Zeit abgerufen werden konnte. (In diesem Fall grenzt das für mich an ein Wunder, da ich technisch bzw. besonders in Bezug auf Elektrik wirklich eine Nuss bin. Für andere wäre das vielleicht keine große Leistung gewesen.) Literaturarbeit zahlt sich also aus, wenn sie wirklich verinnerlicht ist. Wie geht das, ohne selbst eine Katastrophe auszulösen an der man dann üben kann? Imaginiere die Situation in Deiner Umgebung und stelle Dir vor, was Du gerade jetzt tun würdest.

Ohne Jacken wären wir aufgeschmissen gewesen.
Ich zwang uns regelrecht dazu, sie anzuziehen. Warum kam mir das nur wie ein Zwang vor? Vielleicht, weil wir gezwungen wurden, aus dem Haus zu gehen und noch ein innerer Widerstand vorherrscht, sich dem Zwang nicht zur Gänze zu unterwerfen? Interessant war nämlich, dass nicht alle Jacken anhatten und sie schienen nicht glücklich darüber zu sein...

Die Taschenlampe half!
Die Taschenlampe hatte genügend Lumen um auch mehrere Stockwerke hinauf leuchten zu können. So konnte ich wenigstens etwas Sinnvolles tun.

Nacharbeit: Was hat nicht funktioniert?
Wozu einen Fluchtrucksack, wenn man ihn nicht benutzt?
Das war ein Tiefschlag! Ein Fluchtrucksack, der in einer Fluchtsituation nicht mitgenommen wird, ist kein Fluchtrucksack. Dieses Erlebnis zwang mich dazu a) den Inhalt des Rucksacks zu überdenken, zu ändern und saisonal anzupassen und b) regelmäßige Kontrollen einzuführen, damit mir der Rucksack wieder richtig 'eigen' wird. Man muss damit arbeiten können und das – im Notfall – sehr schnell.

In dieser Situation hätte ich nicht einen einzigen Gegenstand brauchen können, außer dem Notgeld. Aber wäre etwas mit dem Haus passiert, dann hätte ich keine amtlichen Unterlagen (Urkunden usw.) und Versicherungsverträge mitgehabt und alles wäre verloren gegangen.

Ohne Geld wird's schwierig
Seit diesem Vorfall lege ich nicht nur den Ausweis und andere wichtige Utensilien, sondern auch die Geldbörse (freilich mit etwas Bargeld) gebündelt auf einen Haufen.

Auch wenn ich in dieser Situation nicht mit dem Auto flüchten konnte, in einer anderen ist diese Option vielleicht notwendig. Also: Autoschlüssel kommt immer mit. Die x Stockwerke hinunter und dann wieder hinauf zu rennen würde irrsinnig an Nerven und Energien saugen.

Der Katzenkäfig steht nun direkt neben den Fluchtrucksäcken
Das spart wichtige Minuten und erlaubt doch noch das Suchen nach der Katze.

Diskussion
Habt ihr ähnliche Erfahrungen gemacht?

Was würdet ihr tun, wenn euch das jetzt gerade passieren würde?

Was hätte ich besser machen können?

Deutschsprachige Stichworte: Zivilschutz, Sicherheit, Selbstschutz, Freiwillige Feuerwehr

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Besten Dank! :)

Interessanter Beitrag.
Das mit dem Funken an der Klingel ist mir in der Schule auch erzählt worden (solche Themen hatten offenbar in der DDR mehr Relevanz), auf Anhieb eingefallen ist es mir jetzt beim Lesen nicht.
Ich wäre ganz normal ;) mit Handtasche und den üblichen Wertsachen runtergegangen. Eine Notfalltasche habe ich nicht gepackt, ich möchte mich da keiner Paranoia hingeben. Allerdings muß ich auch zugeben, daß ich erst aus einer gewissen Hilflosigkeit in einer Situation, die medizinische Erste Hilfe erforderte, zum Thema Sanitäts- und Rettungsdienst gekommen bin.

Ja, das ist erstaunlich, dass viele Menschen so reagieren, wie Du es gerade beschrieben hast. Denn eigentlich dient die Vorsorge ja der Beruhigung – und dafür braucht's erstmal nicht viel. Erst, wenn man erkannt hat, dass die empfohlenen zwei Wochen Essen und Trinken nicht allzu viel hergeben, dass im Zweifelfall niemand uns rechtzeitig über irgendetwas informieren wird usw., erst dann wird es schwierig mit der Psychohygiene. :) Aber es zahlt sich aus, da durch zu gehen und systematisch zu überlegen: "Was kann mir hier wirklich passieren? Was, wenn ich jetzt ins Auto oder in den Zug steige und nach XY fahre?" usw.

Bei mir hat's wirklich wirklich Klick gemacht, als ich Vater wurde. Und ich habe das als ein ganz natürliches Gefühl empfunden, ohne Angst oder Paranoia. (Angst bekam ich erst, als ich merkte, wie schlecht wir damsls eigentlich aufgestellt waren.)

Ein guter Beitrag, finde ich. Schön, mit welcher Deutlichkeit hier gesprochen wird:

"Katastrophenalarm kann bei drohenden schweren Schäden etwa bei verheerenden Unglücken oder Naturereignissen ausgelöst werden. Damit können einige Grundrechte außer Kraft gesetzt werden, so das Recht auf Freizügigkeit und Unverletzlichkeit der Wohnung. Im Notfall können die Behörden dann Gebiete absperren und räumen, Einwohner als Helfer verpflichten, fremde Gebäude oder Autos nutzen. Außerdem kann unter anderem die Bundeswehr für den Einsatz im Inland angefordert werden."

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