24. Dezember bis 30. Dezember 2018 - Wochenrückblick in eigener Sache
Kurz bevor diesem Jahr der Riegel vorgehangen wird, ein letzter Rückblick auf Geschehenes
Ein herzliches Hallo und einen wunderschönen Guten Morgen aus den Redaktionsräumen des BRenNgLAS
Nach der Weihnachtsausgabe, die sich ganz und gar Geschehnissen längst vergangener Zeiten untergeordnet hatte, nun wieder eine Ausgabe im gewohnten Format.
Was so viel bedeutet, als dass wir mit dem beginnen, was ich in dieser Woche zusammengetragen habe. Also der Reihe nach:
- Der Anfang steht ganz im Zeichen der Aufzeichnungen aus meinem Leben, in dem es Zufälle tatsächlich geschafft haben, mich hierher in diese Redaktionsräume zu katapultieren. Heute, in der nun wirklich letzten Episode, kommt zur Sprache, weshalb ich meinen persönlichen Brexit bereits vor vielen Jahren vollzog.
- Der Tod von Amos Oz schreibt, wie sollte es auch anders sein, die Empfehlung für den Griff ins Bücherregal vor.
- Das Album der Woche kommt von einem Tausendsassa der deutschen Medienlandschaft. Seiner Vielfältigkeit hat er es vielleicht auch zu verdanken, dass er die Arctic Monkeys oder Dana Fuchs auf den letzten Metern überholen konnte. Seid gespannt auf Fynn Kliemann.
- Danach gestatte ich mir mal wieder einen genaueren Blick auf die Geschehnisse bei mir direkt vor der Haustür. Ich nenne es die weihnachtlichen Nachwehen, meine Nachbarn haben dafür Begriffe außerhalb der Gynäkologie parat.
- Ich weiß, Werbung ist lästig, muss aber leider sein. Genau aus diesem Grund quetscht sie sich zwischen das Geschehen vor Ort und das Impressum.
- Das wiederum gibt euch die Möglichkeit, sofort die Adresse des BRenNgLAS zu notieren, um die Redaktion mit Lobeshymnen (oder was es sonst auf diesem Gebiet gibt) zu überschütten.
Für alle die, die nicht wissen, von was ich hier überhaupt berichte:
Die Nacht könnte interessant werden …
... insbesondere, wenn Scotland Yard involviert ist.
Der Tag schreitet seinem Ende entgegen und droht geradewegs in der Rumpelkiste der Tage mit dem Motto “aussortiert und unspektakulär” zu landen, die mit nicht einem einzigen Highlight glänzen konnten und damit einer späteren Erinnerung nicht wert sind. Alleine die Tatsache, in diesem Augenblick alleine bei Gianlucio an der Verkaufstheke zu stehen und ihn dabei zu beobachten, wie er meine Pizza „Conchiglie Diabolico “ in den Karton rutschen lässt, ist wahrhaftig nicht der Knaller, der diesen Tag vor seiner endgültigen Verschrottung retten könnte.
Normalerweise erscheinen wir, als letzte Kundschaft des Tages, bei Gianlucio immer im Doppelpack. Als da wären Billy, in seiner Multifunktion als Freund, Arbeitskollege und WG-Partner, und selbstverständlich ich.
Billy, ein glühender Fan von Manchester United und von Beruf Maurer, war irgendwann nicht nur des Nordens überdrüssig, sondern auch Sand, Kalk und Zement. So zog es ihn nach London, wo er auf einen Saarländer traf, der weder Manchester (egal ob City oder United) etwas abgewinnen, noch eine Ahnung davon hatte, was man mit Sand, Kalk, Wasser und Zement alles so anstellen kann. Bei bereits so vielen bestehenden Gemeinsamkeiten im Vorfeld, konnte aus diesem Gemisch nur eine dicke Freundschaft entstehen. Ich ignorierte meine angeborene Ahnungslosigkeit und Billy strich seine Manchster-Vergangenheit. Genau so mutierten wir innerhalb kürzester Zeit zum Dreamteam hinter der Theke in Shelley's. Ein Pub im Herzen Londons. Genauer gesagt in der Stafford Street. Zum Glück kein Touristenladen, wie man sie in der Gegend zuhauf findet. Aber während der Woche so gut wie immer proppenvoll.
Doch der heutige Abend (keinen Schimmer warum) gestaltete sich vergleichsweise ruhig und so ergab sich die Gelegenheit, dass Billy bereits gegen 22:00 Uhr mir ein kurzes Handzeichen gab und den Pub verließ. Daraus resultierend nun auch mein Solo-Auftritt beim Italiener.
Der italienische Teig-Jongleur betreibt seinen Laden genau neben dem Eingang zur U-Bahnstation Ladbroke Grove. Von hier, bis zur Bassett Road, wo Billy und ich eine bezahlbare Bleibe gemietet haben , sind es maximal 15 Minuten. Also keine Chance für das pikante Mafia-Gebäck abzukühlen. Außerdem, bereits zigmal getestet und ebenso oft für machbar befunden.
Billy und ich kamen an dieses Flat in der Bassett Road. durch einen Tipp einer unserer Gäste. Ich nutze mit Absicht diesen, aus dem Englischen entlehnten Begriff, denn als Wohnung kann es nach meinen Maßstäben mit Sicherheit nicht bezeichnet werden. Zwei winzige Zimmer, Toilette und Dusche. Der indische Vermieter behauptete zwar stur und steif, es handele sich um eine Wohnung, was der elende Halsabschneider sich auch noch durch unsere Unterschrift auf dem Mietvertrag bestätigen ließ, aber mit der Bezeichnung: Schlafmöglichkeit mit begehbarer Nasszelle trifft es die Sache erheblich besser.
Uns war es damals wie heute eigentlich wurscht, da wir spätestens am Morgen um 9:00 Uhr North Kennsington in Richtung Westminster verlassen, spät am Abend noch Gianlucio zu Umsatz verhelfen und erst dann in die Bude einlaufen.
Der indische Geld-Geier hatte das Innenleben des dreistöckigen Hauses so verhackstückt, dass er sechs Wohnungen zu Geld machen konnte. Das Pendant unserer Bude, rechts von uns gelegen, haben zwei Jungs aus Irland in Beschlag genommen. Aber typisch für London, wenn wir uns, als Nachbarn, überhaupt mal während der Woche über den Weg laufen, dann hat der Zufall garantiert seine Hand im Spiel. Kein gemeinsames Bier, kein Small-Talk im Eingangsbereich. Wenn überhaupt, ging es nie über ein Hallo hinaus. Dass die Jungs aus Irland kommen, ist schon vom Akzent her unüberhörbar. So wie Billy sofort an seinem Manchester-Akzent zu identifizieren ist, übertragen die beiden Iren den Stolz ihrer Heimat in jedes artikulierte Wort. An den ganzen Rest der Belegschaft im Haus habe ich keine abrufbaren Erinnerungen.
Während ich so den Ladbroke Grove in Richtung Bassett gehe, frage ich mich, ob Billy bereits schläft, irgendwo versackt ist oder sich doch noch einmal mit Anne, seiner Dauer-On-Off-Beziehung versöhnt hat. Immer noch tief in meinen Gedanken versunken, die Schachtel mit der heißen Pizza in der linken Hand balancierend, biege ich ab in die “unsere” Straße. Was mir sofort auffällt, im Gegensatz zum Ladbroke Grove leuchtet hier keine einzige Straßenlaterne. Ich registriere es, wundere mich einen kurzen Moment und schreite unbeeindruckt weiter in Richtung unserer Luxus-Behausung.
Was mich aber dann doch stutzig werden lässt, ist die Tatsache, dass fast nirgendwo in den rechts und links anrainenden Häusern Licht brennt. Da Engländer weder Vorhänge noch Rollladen große Beachtung beimessen, fällt so etwas direkt ins Auge. Aber auch das ist mir augenblicklich egal, da ich bereits vor unserer Haustür stehe und mich auf mein Abendessen freue.
Doch kaum drücke ich die Tür hinter mir ins Schloss, klebe ich mit meiner Frontseite (mit anderen Worten: meiner Schokoladenseite) glatt an der Wand im immer muffigen Hausflur. Die Pizza schließt sich meiner spontanen Aktion solidarisch an. Heftet sich jedoch nicht (wie ich) an die Wand, sondern an meinen Oberschenkel. Zuerst erreicht ihr intensiver Geruch meine Nase. Erst dann gelingt es der noch erheblichen Restwärme, sich durch meine Jeans bis auf meine Haut vorzuarbeiten. Wie überhaupt das Mafia-Gebäck sich so schnell aus der flachen Kartonage befreien konnte, anschließend nicht der Schwerkraft folgt und auf dem Fußboden landet, sondern sich an meinem Bein eine Zwischenstation sucht, könnten nur Videoaufnahmen dokumentieren. Doch die wurden nie gemacht. Schade, denn mich hätte diese innige Verbundenheit zwischen Teig und Mensch, sowie die praktizierte Ignoranz gegenüber der Schwerkraft sehr interessiert.
Stattdessen drückt mich irgend ein Vollidiot noch fester an die Wand, während gleichzeitig meine Handgelenke mit Handschellen fixiert werden. Der Pizza scheint diese Misshandlung zu gefallen, denn sie kuschelt sich noch näher an mich ran. Obwohl es stockdunkel im Hausflur ist, scheinen diese Blödmänner hinter meinem Rücken den vollen Überblick zu haben. Warum auch immer, aber ich frage mich, wo überhaupt Billy steckt? Wieso reagiert der auf das Remmidemmi hier im Flur nicht. So fest kann doch kein Mensch pennen?!
Irgendjemand hinter meinem Rücken schreit was von Scotland Yard, ich sei festgenommen und solle keine Fragen stellen. Ohne sie laut zu artikulieren, liegt mir trotzdem eine Frage auf der Zunge. Wer, verfluchte Hacke nochmal, der spät am Abend, nach getaner Arbeit nach Hause kommt und so wie ich gerade empfangen wird, hat nicht das Bedürfnis Fragen zu stellen?
Während mich diese vermummten Gestalten wieder zurück auf die Straße zerren und mich in einen vergitterten Kleinbus schieben, halte ich mich vorsichtshalber strikt an die Anweisung und sortiere lediglich meine Gedanken.
Wo kommt überhaupt dieses Auto plötzlich her? Als ich vor ein paar Minuten die Straße runter kam, fiel es mir jedenfalls nicht auf. Außerdem, und das wiegt noch schwerer, schmerzen meine Handgelenke ungemein. Liegt wohl daran, dass ich und meine beiden Fremdenführer uns nie einig über die einzuschlagende Richtung sind. Bei jeder Gegenbewegung höre ich ein Klack und gleichzeitig verstärken sich meine Schmerzen an den Handgelenken. Zu allem Überfluss riecht es ungemein intensiv nach Pizza „Conchiglie Diabolico“.
Vollkommen konsterniert werfe ich einen Blick auf meine Jeans. Wie ich, ohne wissenschaftliche Vorbildung, feststellen muss, haften Käse und scharfe Tomaten-Paprika- Sauce besser an Denim als Muscheln und Pilze.
Aber da wir uns ja nicht mehr im unbeleuchteten Flur befinden, sondern im Heck eines schlecht ausgeleuchteten Transporters, erkenne ich dies als neu geschaffene Situation an, in der die Regeln aus dem unbeleuchteten, muffigen Flur nicht mehr gelten dürften. So starte ich den erneuten Versuch, eine Frage zu stellen. Genau genommen ist es gar keine Frage. Nein, eher eine Bitte. Denn ich bitte um so viel Freiraum, dass ich mir zumindest den Käse vom Oberschenkel abkratzen und in meinen Mund stecken kann. Schließlich habe ich den duftenden Kleber auch bezahlt.
Dieser mündlich vorgetragene Wunsch wird mit schroffen Worten abgelehnt. Ich versuche meinem Gedächtnis Zugang zu dem Fach zu gewähren, indem ich die Genfer Konventionen vermute. Funktioniert jedoch nicht wirklich, da meine Gier nach diesem Käse vieles andere zu überlagern scheint. Irgendwie bin ich schockiert über mich selbst. Anstatt mich so zu verhalten, wie ich dies in meinen Phantasien bereits zigmal durchgespielt hatte und mich mit einer von Bruce Willis abgekupferten Aktion von den Handschellen und den Menschen, die den Schlüssel zu diesen Dingern besitzen, zu befreien, denke ich nur ans Fressen.
Jetzt, da das Auto auf das Gelände von New Scotland Yard einbiegt, bin ich mir zumindest sicher, dass die Jungs mich nicht angelogen hatten. Es hätte schließlich auch eine Entführung sein können! Nur wo Billy das Lösegeld hätte auftreiben können ...? Vielleicht hätte er Gianlucio gefragt? Ein Italiener kennt sich doch mit solchen Alltäglichkeiten aus.
Anstatt mich mit ein paar netten Worten darauf hinzuweisen, dass das Ziel der Reise erreicht und damit ein erneuter Stellungswechsel kurz bevorsteht, höre ich das inzwischen bereits bekannte Klack, Klack der sich weiter verengenden Handschellen. Im Vereinsheim der Londoner Polizisten sieht alles danach aus, als würde man bereits auf mich warten. Da die Stromrechnung von Scotland Yard sowieso vom Steuerzahler, zu denen auch ich gehöre, beglichen wird, lässt man sich nicht lumpen und hat auf volle Beleuchtung geschaltet.
Die Türen öffnen sich wie von Geisterhand und ehe ich mich versehe, sitze ich auf einem unbequemen Holzstuhl vor einem Schreibtisch, auf dem eine überdimensionale Schreibtischlampe ihren Standort gefunden zu haben scheint. Mehr kann ich beim besten Willen nicht erkennen, da der grelle Lichtkegel dieser elenden Leuchte mir volle Lotte ins Gesicht blendet.
Die beiden Wachhunde mit den Schlüsseln für die Handschellen haben ein Einsehen mit mir und befreien mich von den Edelstahl-Fesseln. Doch anstatt ihre nächtlich verübte Schandtat an einem deutschen Staatsbürger (mit saarländischer Abstammung) in der Kantine mit einem double Scotch, Light & Bitter oder einem Glas Liebfrauenmilch zu feiern, positionieren sie sich fast auf Tuchfühlung neben mir.
Oh Wunder, oh Wunder, es gibt tatsächlich britische Polizeibeamte, die in der Lage sind ganze Sätze zu formulieren, ohne mir gleichzeitig körperliche Gewalt zukommen zulassen. Denn irgendwer aus der Tiefe des Raumes, hinten aus dem Dunkel, fragt mich jemand, ob ich wisse, warum ich mich gerade jetzt in diesem Zimmer befinde. Da ich vollkommen ahnungslos bin, aber mich nicht, wie der Anführer aller Deppen präsentieren und einsilbig mit einem schlichten Nein die an mich gerichtete Frage beantworten möchte, formuliere ich eine für mich plausible Erklärung. So äußere ich meine Vermutung, dass es höchstwahrscheinlich nur so sein könnte, dass deutsche Staatsbürger kurz vor oder nach Mitternacht keine italienischen Produkte ungestraft in einer britischen Wohnung mit indischem Vermieter verzehren dürfen.
Die Stimme aus dem Off informiert mich darüber, dass ein solcher Gesetzentwurf das Unterhaus noch nicht passiert habe und somit ich meine Vermutung auf dem Müll entsorgen könne. Da mir jedoch schon immer eine gewisse Dickköpfigkeit nachgesagt wird, greife ich, trotz aller Widrigkeiten, nicht auf das Nein zurück, sondern mache dem Unsichtbaren im tiefen Dunkel mit der Möglichkeit vertraut, wenn er den Grund zu erahnen glaube, ihn mir doch einfach zu verraten. Das kürze die ganze Fragerei höchstwahrscheinlich erheblich ab und eröffne zudem Raum für andere Aktivitäten.
Mister Unsichtbar outet sich als kein großer Freund verbaler Hilfestellungen und hat stattdessen den Fragenkatalog aufgeschlagen, den er sich für äußerst heikle Fälle angelegt hat. Denn jetzt plötzlich interessiert nicht mehr, ob ich weiß, warum ich hier sitze, sondern, was ich den ganzen Tag über so getrieben habe. Bei dieser Wechselhaftigkeit und so wenig Entgegenkommen wechsele ich dann doch in den Modus der Einsilbigkeit.
„Gearbeitet.“
„Wo?“
„Shelley's Cellar Bar“
„Augenzeugen?“
„Ja.“
Irgendwie scheint der lichtscheuen Gestalt mein neu gefahrener Modus auch nicht so wirklich zu behagen. Als Zeichen seines gereizten Nervenkostüms lässt er eine Hand auf den Schreibtisch klatschen, schiebt den Regler seiner Stimme in der Lautstärke leicht nach oben und verlangt von mir konkrete Angaben darüber, wo ich mich am heutigen Morgen zwischen 09:00 und 09:30 Uhr aufgehalten habe. Ich überlege einen kurzen Moment, ob ich es nicht auf die Spitze treiben sollte und darauf bestehe den deutschen Botschafter zu wecken, damit der den Außenminister kontaktieren kann, um meinen Fall möglichst zügig dem UN-Gremium für Menschenrechte vorzulegen. Lasse diese Option jedoch links liegen, da mich inzwischen selbst brennend interessiert, warum ich überhaupt hier sitze und der Käse auf meiner Jeans mittlerweile wieder schnittfest zu sein scheint.
„In der U-Bahn zwischen Ladbroke Grove und Old Bond Street den Guardian gelesen. Direkt neben mir saß mein Freund Billy Coldham und suchte nach irgendwelchen Resultaten im Evening Standard."
Ich weiß nicht genau, welches Wort in den beiden letzten Sätzen den abrupten Wandel herbeigeführt haben. Doch plötzlich erleuchtet die Deckenlampe und das grelle Licht vom Schreibtisch her erlischt. Mister Unsichtbar tritt aus seinem Schatten heraus. In der Lautstärke nun wieder im vertretbaren Bereich, wünscht er nun zu wissen, wann ich zum letzten Mal mit meinen Nachbarn Kontakt hatte. Wahrheitsgemäß antworte ich, dass ich über solche Begegnungen kein Tagebuch führe, aber keinen der beiden Iren in den letzten 4 Tagen zu Gesicht bekommen zu haben.
Nun folgt eine Frage, die in mir erhebliche Zweifel aufkommen lassen, ob dieser Anzugträger je in einem Londoner Mehrfamilienhaus gewohnt hat. Er will tatsächlich von mir wissen, wie unsere Nachbarn heißen und von wo sie ursprünglich stammen. Selten so gelacht.
Dass sie aus Irland stammten, verriet ihr Dialekt 10 km gegen den Wind. Aber wer fragt seinen Nachbarn wie er heißt? Entweder ich gebe mich mit dem zufrieden, was auf der Klingel oder dem Briefkasten steht oder ich verzichte auf jegliche Anrede. Das Jahr dreht auch so weiter seine Runden – mit oder ohne Namen.
Die nächste Frage des mit absoluter Sicherheit überschätzten und überbezahlten Angestellten im englischen Staatsdienst schlägt dann dem Fass den Boden aus. Ob ich in der Lage sei, eine detaillierte Beschreibung meiner Nachbarn abzuliefern? Mein Gott, was denkt sich dieser Typ? Man sieht sich alle Jubeljahre durch Zufall, wechselt ein paar Worte und der Käse ist gegessen.
Das sind zwei Typen mit starken irischen Akzent. Sonst nichts. Wären es zwei reizende Damen mit walisischem Akzent gewesen, weder Billy noch mich hätte die sprachliche Abnormalität interessiert. Der ganze Rest jedoch sehr. Aber so. Wie weltfremd ist diese Polizei eigentlich?
Das absolute Sahnehäubchen hat dieser Totalversager sich aber für den Schluss aufbewahrt. Ich werde aufgefordert Fingerabdrücke, meiner sämtlichen Finger, auf einem extra vorgefertigten Dokument zu hinterlassen. Um mir etwas Bedenkzeit für die Formulierung meines Protestes herauszuschinden, schiebe ich eine andere Frage vor und will wissen, an wen ich die Rechnung für die Pizza und die Reinigung der Hose adressieren darf? Eine Antwort bleibt der Bürokraten-Depp mir schuldig. Stattdessen dürfen die beiden Wachhunde neben mir wieder in Erscheinung treten und meine Fingerkuppen auf ein vollgetanktes Stempelkissen drücken.
Zehn Minuten später sitze ich in einem Streifenwagen, dieses Mal ohne Handschellen, und beobachte durch die Seitenscheibe, wie wir vom Ladbroke in die Bassett einbiegen. Unsere Wohnung sieht aus wie ein Schlachtfeld. Und mitten in diesem Schlachtfeld sitzt Billy und grinst mich breit an.
Wenige Minuten später bin ich darüber informiert, dass mein Freund das gleiche Prozedere wie ich durchlaufen hatte (nur ohne Pizza), aber bei der Rückkehr ins Haus meine Pizza gefunden und ohne Gewissensbisse vernichtet hat. Außerdem sei die Wohnung neben uns ab sofort frei und die beiden irren Iren am Morgen etwas taten, was man eigentlich tunlichst vermeiden sollte, wenn man Ärger mit der Polizei vermeiden möchte.
Da es in der direkten Nachbarschaft in letzter Zeit vermehrt zu Einbruchsdiebstählen kam, gingen am (jetzt bereits) gestrigen Morgen 2 Streifenpolizisten von Haus zu Haus, um Anwohner zu befragen, ob ihnen in diesem Zusammenhang etwas aufgefallen sei. So standen sie dann logischerweise irgendwann auch vor unserer Tür. Da Billy und ich bereits auf dem Weg in die Innenstadt waren, blieb es an unseren direkten Nachbarn, auf das Klingelzeichen zu reagieren. Doch anstatt einfach nur zu öffnen und die Fragen der beiden Bobbys zu beantworten, entschieden diese sich für die denkbar schlechteste Variante.
Sie erschossen die unbewaffneten Beamten und traten augenblicklich die Flucht an. Dies war keine Idiotie im Quadrat sondern der GAU schlechthin. Denn nicht genug damit, dass Menschen getötet wurden, diese Arschlöcher haben doch tatsächlich in ihrer Wohnung Sprengstoff gehortet, der ausgereicht hätte, die ganze Bassett Street in die Luft zu jagen.
Ob das unserem indischen Halsabschneider besonders gut gefallen hätte, wage ich zu bezweifeln. Am allermeisten kotzt mich jedoch an, dass diese Beamten unsere Wohnung bereits am Morgen auf den Kopf gestellt hatten, Pass, Arbeitsunterlagen und den ganzen restlichen Mist zur Verfügung hatten und trotzdem warteten, bis ich mit der Pizza „Conchiglie Diabolico“ nach Hause komme.
Diese wahre Geschichte endet damit, dass mir weder die Kosten der Reinigung ersetzt wurden, Billy und ich aber in den folgenden Tagen Dauergäste bei Scotland Yard waren, da sich herausstellte, dass wir die einzigen Bewohner im ganzen Haus waren, die eine brauchbare Täterbeschreibung liefern konnten, und zwei Wochen nach dem Polizistenmord ein Bombenanschlag auf das Shelley's nur Dank aufmerksamer Sicherheitskräfte, die Billy und mich unauffällig begleiteten, verhindert werden konnte. Der Sprengsatz wurde kontrolliert gezündet.
Irre Iren sind nicht immer freundlich!
Amos Oz
ist am Freitag dieser Woche in Jerusalem an den Folgen einer Krebserkrankung gestorben.
Im Leben des Amos Klausner gab es etwas, was immer unzertrennlich aneinander hing, Politik und Poesie. Dass aus dem Klausner der Oz wurde, sagt viel über diesen außergewöhnlichen Mann aus, denn Oz ist das hebräische Wort für Stärke - und die verinnerlichte er wie kaum ein anderer.
Der sehr frühe Suizid der Mutter, der ständige Kampf gegen die britischen Besatzer und Verwundungen als Soldat der israelischen Armee hinterließen tiefe Narben.
Zum Jom-Kippur-Krieg sagte er damals: "Selbst unvermeidliche Besatzung ist eine korrumpierende Besatzung"
Sein intensiven Erfahrungen im Kibbuz und der Siedlungspolitik der Regierung ließen ihn sehr früh zu einem Befürworter der Zwei-Staaten-Lösung werden. Für Amos Oz war das Hebräische immer wichtiger als der Staat Israel. 1996 sagte er in einem Interview: "Ganze Flüsse aus gemeinsam getrunkenem Kaffee können nicht die Tragödie zweier Völker auslöschen, die das gleiche kleine Land als ihre einzige Heimat betrachten. Wir müssen es teilen. Wir müssen einen Kompromiss erarbeiten, den beide Seiten akzeptieren könnten".
Amos Oz - Eine Geschichte von Liebe und Finsternis
Fünfzig Jahre nach dem Selbstmord der Mutter, den Oz bislang mit Schweigen belegt habe, blicke er zurück und rekonstruiere die Geschichte seiner Familie. Dabei, so die Rezensentin, beharrt Oz jedoch auf der Bezeichnung "Roman", denn er begreife das Auffinden der eigenen Kindheit immer auch als ihr Erfinden. Dies erscheint auch der Rezensentin insofern glaubhaft, als Oz mit diesem "autobiografischen Meisterwerk" nicht nur eine "Selbstrettung" vollführt, sondern sich auch als das Kind erfindet, "das seiner Mutter das Leben rettet". Doch das Buch ist nicht nur von autobiografischem Interesse, wie die Rezensentin betont, es stelle auch ein "einmaliges Dokument der Geburtsstunden des Staates Israel" dar und zeige Israels "ganz eigenen Generationskonflikt" auf, zwischen der Generation der Diasporajuden, "die ihre Heimat verloren haben, aber letztlich nie angekommen sind in Israel", und ihren dort geborenen Kindern. Und so klingt durch dieses Buch nicht zuletzt der "Basso Continuo" einer "enttäuschten Liebe", der Liebe der europäischen Juden zu Europa
Quelle
Der Tänzer auf vielen Hochzeiten, dessen musikalisches Talent nicht unterschätzt werden sollte.
Flynn Kliemann
Was gibt es über das Multitalent noch zu sagen, was nicht schon längst bekannt ist?
Seine werbe-freien Kanäle (Sponsoren NDR & Funk) auf YouTube sind seit fast drei Jahren der Renner schlechthin. Ob als Heimwerkerking oder im Kliemannsland - für Unterhaltung ist immer gesorgt.
Dazu kommen seine Gastspiele bei Dittsche und Rollen in Detlef Bucks Filmproduktionen.
Dass er jetzt seine musikalischen Ambitionen gleich mit einem ganzen Album unterstreicht, macht Hoffnung für die Zukunft.
Übrigens, das berühmte Hausboot von Gunter Gabriel, das gehört jetzt Olli Schulz und Fynn Kliemann.
Das Album
ZUHAUSE - Fynn Kliemann
Was mir sonst noch so auffiel:
Wie in jedem Jahr, wenn die Tage gezählt sind und alle nur darauf warten ein neues Kapitel aufzuschlagen, prasseln sie über dich ein, die Rückblicke auf Geschehnisse der letzten 12 Monate, Prognosen, die sich allesamt als Kaffeesatzleserei herausstellen, jedoch den Anspruch erheben, den Ausblick auf das kommende Jahr glasklar zu präsentieren, sitze ich vor dem Monitor und wundere mich.
Der ist gestorben? Habe ich überhaupt nicht mitbekommen. Schade. Hätte wirklich noch ein paar Jahre aushalten können. Mali, Jemen, Sudan - wird dort immer noch geschlachtet? Es nimmt ja auch langsam überhand mit den ganzen Schlachthäusern. Wer finanziert die überhaupt und wer soll da noch den Überblick bewahren? Ach ja, Heidi Klum hat sich verlobt. Gut zu wissen. Aber dass gerade der gestorben ist, ich kann es immer noch nicht fassen, wie diese Nachricht an mir vorbeigeschleust wurde. Aber das mit dem Vorbeischleusen oder unsichtbar machen von Gesagtem, Gedachtem und Gesehenem, das soll ja im nächsten Jahr noch schlimmer werden. Dann sollen Meldungen auf die Halbwertzeit einer Stubenfliege heruntergeschraubt werden. Reinstellen und sofort löschen lassen, bevor es jemand anderes tut.
Das mit dem ganzen Krypto-Zeugs soll ja übrigens auch nicht gerade rosig werden. So habe ich zumindest gelesen. Genau, in den Prognosen, die übrigens alle von Experten verfasst werden, aber komischerweise nie gelöscht werden. Vielleicht weil jeder weiß, dass es ja nur Satire ist, sie es aber immer wieder vergessen zu erwähnen. Aber das mit diesem Bitcoin und seinen Geschwistern, das soll dann doch ganz ernst gemeint sein. 2019 wird demnach das Wachstumshormon für das Wallet, in dessen Suche so viel Hoffnung und Energie gesteckt wurde ein Sabbatical einlegen.
Sabbatjahr, sagt nur, kennt ihr nicht? Dann müsst ihr mal kurz bei ganz bestimmten Berufsgruppen nachfragen. Die kennen das. Sind zwar mehrheitlich keine Juden, aber den Sabbat, den begeht man dann doch ganz gerne. Aus dem, was ein Sabbatical ursprünglich an Gedankengut mit sich führt, hat man das Angenehmste sich entliehen und frönt dementsprechend dem Nichtstun. Zu so etwas soll sich also auch der ganze Kryptozirkus entschlossen haben. Nur gut dies im Voraus zu wissen, dann kann ich mir den Blick ins Wallet getrost sparen und mich ganz auf mein Geschreibsel konzentrieren.
Außerdem, so habe ich es zumindest gelesen, macht das mit diesen schicken digitalen Geldbörsen sowieso keinen Sinn, auch wenn man ihnen so schöne Namen wie Ledger oder Trezor verpasst. So sagten es zumindest einige Jungs auf dem Hackerkongress 35C3 in Leipzig.
Nachdem, was die so berichten, sollte der Schotter doch lieber gleich auf die Straße gebracht werden, wo jeder Bedürftige zulangen kann.
Mit was hat mich der Alltag noch überrascht?
Ich durfte erstmals den Artikel eines Kollegen über Donald Trump (das ist dieser Amerikaner mit der komischen Frisur und dem überhitzten Twitter-Account) lesen, der damit begann, dass der Autor sich vorab dafür entschuldigte, etwas Positives über diesen Mann zu schreiben. Soweit ist es also bereits mit uns Journalisten gekommen, dass wir uns für unsere Meinung und das Recherchierte entschuldigen müssen, weil vielleicht (wer wagt dies heute noch zu beurteilen) nur das von uns erwartet wird, was im Kopf schon in Form gegossen ist.
Da kann es dann nicht verwundern, wenn Claas Relotius, ein ehemaliges Aushängeschild des deutschsprachigen Journalismus, zum veruntreuenden Märchenerzähler mutierte. Dass er sich für diese wundersame Veränderung das Nest des Blattes ausgesucht hat, das immer mit dem Maßstab aller Dinge unterwegs war, tut irgendwie besonders gut.
Vielleicht gibt es die Bild-Zeitung im nächsten Jahr auch nur noch montags am Kiosk, denn im Geschichten erfinden sind die mit Sicherheit dem SPIEGEL eine Nasenlänge voraus. Die Nasenlänge, die es braucht, um zu Deutschlands bestem Nachrichtenmagazin empor zu steigen.
Ich bemerke den Sarkasmus an meiner Seite, der hier noch die Federführung übernehmen möchte. Da ich dem gewieften Burschen den Gefallen nicht dulden möchte, verabschiede ich mich für dieses Jahr von euch und wünsche euch und alle die ihr lieb habt, einen guten Rutsch in das Neue Jahr.
Hallo Wolfram,
ich muss gestehen, dass sich mir der kausale Zusammenhang deiner Erlebnisse in London mit deiner jetzigen Tätigkeit in den Räumen der Chefredaktion nicht so hundertprozentig erschließt. Aber das tut auch nichts zur Sache, Hauptsache, irgendwas hat dazu geführt, dass du dazu in der Lage bist, diese so kurzweilig zu verschriftlichen und damit sicher so manchem Leser auf wunderbar humorvolle Weise zuverlässig den Sonntag versüßt.
Sehr gut nachvollziehen kann ich selbstverständlich die Ortswahl für die Redaktionsräume: Dort, wo sich kein Pizzaservice hin verirrt ;-)
Zum letzten Wochenrückblick des Jahres passt ja auch ein kleiner Jahresrückblick. Ziemlich genau ein Jahr auf dem Steem möchte ich dazu nur anmerken, dass es insbesondere deine Geschichten, nicht nur im BRenNgLAS-Rückblick, sind, die mir aus 2018 in bester Erinnerung bleiben. Also bitte weiter so - ich habe mein BILD-Abo auch schon lange gekündigt ;-)
Rutscht gut ins Neue Jahr, für die die nächsten 365 Tage alles Liebe, Gute und Gesunde!
Liebe Grüße,
Christiane
Hallo Christiane,
wo du recht hast, hast du recht. Bei der London-Story fehlt der Teil, in dem es mich aus der Stafford Street in die Fleetstreet verschlagen hat, in der damals noch die meisten Redaktionen beheimatet waren. Doch hätte der Zusatz wohl den Rahmen gesprengt. Pizza und Handschellen sollten nicht vom Geschreibsel in den Hintergrund gerückt werden.
Außerdem, wenn ich mich recht erinnere, habe ich diese Phase in meinem Leben bereits in einem anderen Beitrag erwähnt.
Danke für die Wünsche. Ich werde sie mir schön aufteilen.
Liebe Grüße
Wolfram
Lieber Wolfram,
die guten Wünsche solltest du dir nicht nur aufteilen, sondern zunächst auch teilen. Durch den Plural betont, gelten sie natürlich auch der starken Frau an deiner Seite, die, wenn auch etwas im Hintergrund, immer wieder als gute Seele in deinen Texten präsent ist. Ich hoffe, eure Streitigkeiten, wenn du mal wieder ein Huhn für die Rezeptwelt des Steem rupfst, sind und bleiben weiter Fiktion ;-)
Kommt gut rein,
Christiane
Was anderes wäre auch überhaupt nicht in die Tüte gekommen!
Servus,
du hast von mir ein Upvote erhalten! Ich bin ein Curation-Bot und meine Mission ist, hochwertigen Content unter #steemit-austria zu fördern. Hier kannst du mehr über mich und meine Funktionsweise erfahren. Wie du an meinen Curation-Rewards mitverdienen kannst, wird dort ebenfalls beschrieben.
Übrigens: Wenn du den Tag #steemit-austria verwendest, finde ich deine Posts noch leichter!
Auf dem dem Steemit-Austria Discord-Server kannst du nette Leute kennen lernen und deine Beiträge promoten.
Zum aktuellen Tagesreport
Danke!
Lieber Wolfram, eine schöne Mischung aus Lebens-, Jahres- und Wochenrückblick! Was ist schon Zeit? ... Alles dazwischen und noch viel mehr... mein Rückblick will nicht so recht in Worte hüpfen... ich hole mir deinen auf meinen Blog... und wünsche dir und deiner Familie ein frohes, gesundes ... (hihihi) Jahr 2019
Kadna
Hallo Kadna,
vielen Dank für die Wünsche!
Ein kleiner Tipp für deinen Rückblick habe ich noch.
Schnapp dir lediglich den Moment, der dir noch heute das Lächeln auf die Lippen bringt und drück ihn so lange und fest, bis er von ganz alleine seine Geschichte erzählt.
Liebe Grüße
Wolfram
Solide und fast schon Monumentale Lektüre, die seinesgleichen sucht.
Ganz großes Kino. 😎
Ein Kompliment mit zwei Sätzen!
Das schafft eben nur der Meister!