「お話の什」Ohanashi no ju - Die Regeln der Zehnergruppe 👹🍣🎎 Faszinierendes Japan
Beim vorletzten Mal hatte ich euch das Nishinkan vorgestellt, eine ehemalige Schule, in der die Jungen der Stadt Aizu Wakamatsu zu angehenden Samurai ausgebildet wurde. Unterricht gab es natürlich im Bushido, dem Weg des Kriegers, und auch in den verschiedensten akademischen Disziplinen.
Die Ausbildung im Nishinkan war mit Sicherheit kein Kinderspiel, denn man sollte sich ja auf eventuelle kriegerische Herausforderungen vorbereiten. Und deshalb wurden die Jungen, welche ab dem 10. Lebensjahr auf das Nishinkan gehen konnten, auch einem harten Drill und strengen Regeln unterworfen.
Aber auch bereits schon vor dem 10. Lebensjahr versuchte man sich auf die harten Prüfungen, die das Leben mit sich bringen sollte, vorzubereiten. Jungen im Alter von 6 bis 9 Jahren organisierten sich selbstständig in sogenannten "Zehnergruppen", man traf sich jeden Tag im Haus eines anderen "Mitzehnten", in dem der Anführer der Gruppe die selbstauferlegten Verhaltensregeln (Ohanashi no ju「お話の什」) verlesen hat.
Diese Regeln konnte je nach Gruppe leicht varieren, waren aber wohl oft ziemlich ähnlich.
一、年長者の言ふことに背いてはなりませぬ
一、年長者にはお辞儀をしなければなりませぬ
一、卑怯な振舞をしてはなりませぬ
一、弱い者をいぢめてはなりませぬ
一、戸外で物を食べてはなりませぬ
一、戸外で婦人と言葉を交へてはなりませぬ
- Höre auf das, was deine Ältesten sagen
- Ihr müsst euch vor den Älteren verbeugen
- Verhaltet euch nicht feige
- Schikaniert nicht die Schwachen
- Esst nicht außerhalb des Hauses
- Wechselt keine Worte mit Frauen außerhalb des Hauses
Beendet wurde dieses Ritual durch eine weitere Warnung 「ならぬことはならぬものです」(naranu koto ha naranu mono desu) - „Tu nicht, was nicht getan werden darf!“
Durch diese kompromisslose Entschlossenheit sollte wohl auch der unerschütterliche Glauben des Aizu-Clans an die "Rechtschaffenheit" gefördert und eingepaukt werden.
Im Anschluss an das Aufzählen der Zehnerregeln wurde die Gruppe gefragt, ob es unter ihnen einen gab, der geben die Regeln verstossen hatte.
何か言うことはありません」(nanika iukoto ha arimasenka) Hat jemand etwas zu sagen?
Für kleine Kinder muss das schon eine ziemlich beeindruckende und auch verängstigende Situation gewesen sein, und falls es einen vermeintlichen Täter gab, musste dieser sich in die Mitte des Raumes setzten und der Rest der Gruppe hat versucht festzustellen, ob er nun eine Regel gebrochen hatte.
Falls ein Regelverstoss festgestellt wurde, gab es verschiedene Arten der Bestrafung. Diese reichten von einfacher Buße und dem Ausdruck des aufrichtigen Bedauerns, zu Schlägen auf die Hand oder den Rücken mit einem Bambusstock bis zur Ächtung, dem Ausschluss aus der Gruppe.
In letztem Fall begleitete der Vater oder ein älterer Bruder des Jungen diesen zum Gruppenchef, und entschuldigte sich im Namen der Familie für die Verfehlungen ihres Kindes. Nur wenn die Gruppe die Entschuldigung angenommen hatte, durfte der Junge dieser wieder beitreten. Eine ziemlich harte Strafe, die die ganze Familie betraf und deshalb nur selten verhängt wurde.
Für die Kinder muss es schmerzhaft gewesen sein, von Gleichaltrigen befragt und gegebenenfalls bestraft zu werden, aber die Zehnerregeln und die Sanktionen wurden nicht von Erwachsenen, sondern von den Kindern selbst erstellt, ohne Einschränkungen oder Zwang. Sie gaben sich gegenseitig Versprechen und ermutigten sich gegenseitig zum Einhalten der Zehnerregeln. Wahrscheinlich haben die Kinder das Verhalten anderer etwas älterer Jungen in ihrer Nachbarschaft kopiert und dann eine eigene Gruppe gebildet, die Regeln und die Sanktionen waren ja normalerweise fast immer gleich.
Natürlich ist es für uns heute ziemlich beeindruckend und auch unvorstellbar, wie sich Kinder selber solchen Verhaltensregeln unterwerfen können. Aber in Abwesenheit eines richtigen Lehrers, fungierte diese lokale Gruppe jedoch irgendwie auch als "guter" Lehrer für die Kinder.
Kinder schauen auf zu ihren Vätern und zu ihren älteren Brüdern und auch zu anderen Älteren in der Gemeinschaft und in ihrem Ort. Und als Kinder des Aizu-Clans, in dem ihre Väter und Brüder meist auch als Samurai dienten und damit ein großes Vorbild waren, entwickelten die Jungs natürlich selber auch schon früh ein Gefühl des Stolzes und ein besonderes Selbstbewusstsein.
Wahrscheinlich haben sich die Mitglieder des Aizu-Clans dann auch aufgrund dieser Einstellung und Grundhaltung so rigoros und ausdauernd und bis zum bitteren Ende gewehrt, als im Boshin-Krieg ihre Stadt und ihre Hauptfeste Tsuruga-jo von den imperialen Truppen der neuen kaiserlichen Regierung belagert und letztendlich eingenommen und zerstört wurde. Es gibt hier zwar nichts zu verherrlichen, und auch wenn zumindest einige der Prinzipien der Zehnergruppe in der heutige Zeit sich überholt haben und eher antik wirken, hat doch der Leitsatz des 「お話の什」auch heute manchmal noch seine Gültigkeit.
Das ist wahrlich interessant! Wie gut, dass sich die Pädagogik im Laufe der Jahrhunderte verändert hat - na ja, weitestgehend... ;-)
ならぬことはならぬものです kann man sich aber gern tätowieren lassen. Sieht hübsch aus, ist in jeder Kultur, in jeder Religion allgemeingültig!
Sind die japanischen Schriftzeichen eigentlich Phoneme oder ist kennzeichnen sie - wie im Chinesischen - Wortbilder?
Liebe Grüße,
Chriddi
das mit der Erziehung und Pädagogik hat sich fürwahr zum besseren geändert, obwohl man auch da noch dran arbeiten kann. Gerade hier in Japan!
Und ja, die japanische Sprache hat mehrer "Alphabete", zwei Laut- oder Silbenalphabete und dazu noch die chinesichen Schriftzeichen, die aber im Laufe der Zeit sich ein wenig anders angepasst haben. Aber gerade die Phoneme machen es dann auch dem Fremden ein wenig einfacher mal etwas lesen zu können. Obwohl auch nach mehreren Jahren hier im Lande bin ich immer noch auf Hilfe angewiesen, und das ärgert mich doch gewaltig!
ein interessanter Einblick. Ich hatte früher einige japanische Bekannte hier in D - es ist eine faszinierende Kultur mit Vielem, was uns extrem strange vorkommt.....
Genau, vieles was man nicht richtig verstehen kann, dann aber gerade in Japan doch auch wieder vieles Vertrautes, weil das Land sich auf seinem Weg in die Moderne schon früh an Europa und auch Deutschland orientiert hat
Ein interessanter Artikel. Japan und Disziplin sind ja scheinbar unzertrennlich. Irgendwie beeindrucken die mich. Auf der anderen Seite finde ich diese Kultur auch wieder etwas befremdlich.
Ich selbst habe 6 Jahre als Betreuer in der Individualpädagogik gearbeitet. Jugendliche die aus schwierigsten sozialen Umständen kommen. Erziehung kann so schnell abrutschen und oftmals wird sie zu einem "Highwire". Zu hart schädigt, "Weichspülpädagogik" aber auch. Am schlimmsten fand ich immer den Verlust von Werten. Wenn Kinder keine Werte bzw. negative Werte vermittelt bekommen, dann wird die Erziehung im Jugendalter extrem schwierig. Klasse finde ich den Satz: "Falls ein Regelverstoss festgestellt wurde, gab es verschiedene Arten der Bestrafung. Diese reichten von ...... und dem Ausdruck des aufrichtigen Bedauerns, ..."