Wählen ist haram, ihr Kuffar! Die Parallelen zwischen libertären und religiösen Fundamentalisten.
Zwei Fundi-Archetypen, die nicht nur die Barttracht vereint: Links Toni Mahoni, rechts Pierre Vogel.
Wer sich in diesen Tagen in der entmilitarisierten Zone befindet, während von einigen Libertären in den sozialen Medien der (bisher nur verbale) „Kampf für Wahlenthaltung“ ausgerufen wurde, hat es vielleicht gar nicht bekommen. Doch das „Immer-einmal-libertärer-als-du-Spiel“ hat ein neues Level erreicht. Nun sollen endlich die Karten auf den Tisch gelegt und die Hosen runtergelassen werden. Wer folgt den lautstarken Freiheitsideologen bedingungslos in die Zwangsjacke des libertären Dogmatismus und wer outet sich als Wähler und bekommt dafür als Dissident und Verräter den Etatistenstern an die Brust geheftet?
Diese Entwicklung haben andere Lager im politischen Spektrum bereits vor langer Zeit durchlebt. Mit Folgen, die teilweise heute noch sichtbar sind. So zum Beispiel bei den Linken mit ihren extremistisch-autonomen Splittergruppen. Dass nun ausgerechnet die Libertären, deren Grundphilosophie von Handlungsvorgaben auf das Minimalste reduziert ist, was wiederum der Garant für individuelle Freiheit und Konfliktvermeidung darstellt, davon betroffen sein sollen, verwundert nur auf den ersten Blick. Die einzelnen Elemente und Abläufe der Entwicklung, die sich teilweise verselbstständigen und in letzter Konsequenz zum Ergebnis einer fundamentalistischen Strömung innerhalb der Gemeinschaft führen könnten, sind die Blaupause derer, wie man sie auch bei einer Religion, die sich hartnäckig dogmatisch auf ihre Lehren bezieht, vorfindet.
Fundamentalismus versteht sich in der Regel als Reaktion auf eine Aufweichung von Überzeugungen, die am Anfang des jeweiligen Glaubens oder Ideologie standen. Die Anpassung an aktuelle Lebensumstände oder den ethischen Kompromiss erscheinen in einem fundamentalistischen Weltbild als problematisch bis unmöglich. Diese Anpassungen versteht der Fundamentalismus als Verrat an dem Gründungsverständnis des Glaubens oder der Ideologie.
Diese „Rückbesinnung“ auf die Grundlage ihrer Ideologie, welche als einzig wahr und (vor)lebenswert angesehen wird, ist allgemein ein beliebtes Mittel, um aufgrund von Geltungsdrang aus der großen Masse der Mainstream-Anhänger herauszutreten. Daraus ergeben sich dann radikale Forderungen (z. B. das Absprechen der Gemeinschaftszugehörigkeit Andersdenkender), die als notwendiges Übel rechtfertigt werden, um hehre Ziele zu erreichen.
Der Nazi kauft nicht bei Juden, der Antifant diskutiert nicht mit Andersdenkenden, ein echter Moslem isst kein Schweinefleisch. Und der aufrichtige Libertäre geht nicht wählen.
Als gleichermaßen manipulativ wie wirksam entpuppt sich das dualistische Konzept, welches die „Hardcore-Anhänger“ als die einzig Wahren und Guten erscheinen lassen soll, während der Rest als verräterisch, feindselig und destruktiv geframed wird. Statt Grautöne gibt es nur Schwarz und Weiß, Gut und Böse. Bist du nicht für uns, bist du gegen uns. Der für ihn unumstößliche Wahrheitsanspruch einer Definition, bringt den libertären Dogmatiker dazu, für Rationalität und Kompromisse nicht empfänglich zu sein. Ähnlich religiösen Fanatikern, die in letzter Konsequenz sogar eigene, natürliche Interessen, den dazu konträren Vorgaben aus ihren Büchern, unterordnen.
Bekennt man sich zu diesen Dogmen innerhalb der Randgruppe, übernimmt man auch die Gruppenidentität für sich. Nimmt diese ein hohes Maß an, entsteht Sektiererei. Ein Fanatismus, der aufgrund des Selbstbezugs außerhalb dieser Gemeinschaft seinen Sinn verlieren würde, was dazu führt, dass sie (aus psychologischer Sicht) nicht einfach verlassen werden kann.
Um Zusammenhalt und Linientreue zu überprüfen, werden Anhänger regelmäßig zu ihrer Haltung bzgl. der Werte und Vorgaben innerhalb der Gruppe befragt. Bei libertären Fundamentalisten wäre das z. B die Einstellung zur Wahl, Maß an Notwendigkeit von Staat, Legitimation von Zwang etc. Gleiches findet man bei den religiösen Extremen, nur dass es sich hier um den Umgang mit Ungläubigen oder die Einhaltung von Geboten dreht. Das Beiwohnen von weiteren Mitgliedern und/oder Öffentlichkeit kann zudem dazu genutzt werden, Konformitätsdruck zu erzeugen. Etwaige Abtrünnige können so leicht aussortiert werden, sodass das gruppeneigene, geschlossene Weltbild bestehen bleiben kann.
Wichtig ist für diese Gemeinschaften außerdem, dass die eigene Stärke nicht nur nach außen demonstriert wird (z. B. durch Verunglimpfung ehemaliger Mitstreiter, was auch zur Abschreckung möglicher Zweifler im eigenen Lager dient), sondern auch in Form von Zusammenhalt nach innen, welcher durch das Suggerieren der Gefahr eines Angriffs von außen erzeugt werden kann. Libertäre „Wahlenthaltungskämpfer“ sprechen beispielsweise präventiv davon, dass für sie eine Gefahr durch den Unmut von der Seite der Wähler ausginge, falls die AfD nicht genügend Stimmen bekommt, bzw. zu keiner Veränderung führt, da man sie dafür verantwortlich machen würde. Auch dieses Muster von Angriff und Selbstviktimisierung kann bei radikal-religiösen Fundamentalistengruppen wiedergefunden werden, wenn sie einerseits die freiheitliche Gesellschaft angreifen, andererseits aber die verletzliche und unterdrückte Minderheit mimen.
Inwieweit sich die aktuelle Entwicklung in der deutschen Ancap-Szene weiter fortsetzt, und ob die bevorstehende Bundestagswahl dafür mehr Ursache oder Symptom ist, bleibt abzuwarten.
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Uups, hier bin ich hängen geblieben. Da hat einer gut beobachtet.
Das ist wirklich treffend beobachtet und beschrieben. Eigentlich geht es um etwas noch Umfassenderes: einen tagtäglich zu erlebenden Drang zur Kompensation und Projektion dessen, was in einem selbst als nicht perfekt, nicht den eigenen (falschen) Idealen entsprechend angetroffen wird.
Vernunft ist eine Schauspielerin. Wäre die Welt "vernünftig" wäre sie wohl nicht mehr lebenswert. Darum schrieb Kant ja auch drei Kritiken.
Und wegen den Fundis. Ein Fundamentalist ist mir eigentlich egal. Das ist jemand der eine eigene Meinung hat. Zum Problem werden Fundis nur, wenn sie meinen, anderen ihren Willen aufzwingen zu müssen. Dann sind sie allerdings keine Fundamentalisten mehr sondern Extremisten.
Und ja, schräg sind sie so oder so😉
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