Notwendigkeit einer philosophischen Vernunftkritik
Man übt Kritik an dem, was uns problematisch erscheint, etwa mit einer Theorie, einem Begriff oder einer Philosophie, die einen Mangel, Schwäche oder gar Gefahr verbergen. Wenn die Kritik Untersuchen, Analysieren, Vergleichen, Überprüfen und Beurteilen bedeutet, dann ist eine Kritik der Vernunft selbst am schwierigsten. Denn die Behandlung dieser Frage ist ihrem Charakter nach ein Denken übers Denken. Unter Einsatz der Vernunft soll die Vernunft an sich selbst Kritik üben, was paradox zu sein scheint.
Zuerst wie ist der Begriff „Notwendigkeit“ in unser Frage zu verstehen? Soll die Vernunft sich genötigt sehen, sich selbst zu kritisieren?
Eine philosophische Vernunftkritik ist angesichts der Philosophie, insofern sie Prinzipienwissenschaft, nicht anders als die Erforschung der Gründe bzw. der Ursachen, die eine Vernunftkritik legitimieren, wenn nicht notwendig machen. Was könnten dann solche Gründe sein?
Nach dem die Vernunft seine erfolgreichste „Karriere“ in der Aufklärungszeit erlebte, wurde dann nach und nach für die Menschheit problematisch.
Ein Überblick über die sog. anti-akademischen Denker zeigt uns, welche Einwende können gegen eine Herrschaft der Vernunft bzw. idealisierte Vernunftsysteme erhoben werden. Schopenhauer beispielsweise sieht den Menschen als ein Lebewesen, der nicht durch Vernunft geführt sei, sondern durch einen dunklen triebhaften und tiefsitzenden Willen. Er sieht ihn in einer gleichen Linie mit allen Dingen dieser Welt (seiner „Welt als Wille und Vorstellung“), die ihre Bewegung diesem triebhaften Willen verdankt. Sein Satz „Wie die Hand zum Greifen, ist der Geist zum Be-greifen da“ verdeutlicht, dass alles in diesem tiefsitzenden Willen begründet liege und dadurch gar zum Leben gerufen sei.
Soren Kierkegaard setzt der idealistischen Vernunft die konkrete Existenz einzelner Menschen entgegen. Diese kann nicht in allgemeinen Kategorien verstanden und mit keinem philosophischen System übereinstimmend erfasst oder deckungsgleich darin gegossen werden.
Friedrich Nietzsche, um nur diese Beispiele zu nennen, stellt gegen die Vernunft das Leben, das in seiner Vielfältigkeit, ja Widersprüchlichkeit jedem Gedenken einer absoluten Wahrheit entgegenstehe.
Vernunftkritik ist eigentlich Kritik der Herrschaft der Vernunft über die Dinge. Das heißt Kritik der Vernunft, wenn sie den Anspruch erhebt, die letzte Instanz sein zu wollen, die das letzte Wort hat, wenn es darum geht, die Menschen und Dinge in deren Gesamtdimensionen zu erfassen und somit zu beurteilen. D.h. ein totalitäres System schaffen, in dem alle und alles reinpassen sollen. Dieser ungeheure Anspruch ist nicht nur undurchführbar, sondern auch gefährlich und endet wegen seiner enthaltenden Widersprüchlichkeit und Einseitigkeit zwangsläufig beim Absurden und früh oder später sogar beim katastrophalen Zusammenbruch. Die Geschichte hält jede Menge Beweise dafür zur Auswahl parat, wie z. B. Faschismus, Nazismus, religiösen Radikalismus, u.v.m.
Wenn Heidegger von „Seinsvergessenheit“ spricht, meint gerade das: unter Einsatz der Vernunft konnte die Menschheit vieles erreichen, nämlich im praktischen Sinne, sprich die technisch-wissenschaftliche Entwicklung, aber zugleich andere wichtige Dimensionen aller Seienden in Vergessenheit geraten ließ. Dass Heidegger für eine Weile dem Nazismus unterwarf sei hier dahingestellt. Die Vernunft wurde seit seiner goldenen Zeit, nämlich der Aufklärung immer mehr Instrumentalisiert und rein pragmatisch eingesetzt, um eine Welt der wissenschaftlich-technischen Erzeugnissen zu schaffen, eine Welt als Haus der Waren, die massenhaft herumliegen, ohne erkennbare Zwischenbeziehung oder Sinn. Eben diese wissenschaftlich-technisch-orientierte Vernunft, also eine instrumentalisierte, reinpragmatische Vernunft muss unter die philosophische Lupe genommen werden, damit aus der Waren- bzw. Konsumwelt ein bewohnbares Haus für die Menschen entstehen kann. Spätestens bis Immanuel Kant unterscheidet die deutsche philosophische Sprache Versand und Vernunft. In Sinne dieser Unterscheidung unterliegt unsere moderne Welt allein dem Verstand, nämlich dem menschlichen Vermögen zum Analysieren, Berechnen und praktischen wie pragmatischen Entscheiden, kurzum zum Bewältigen des Alltäglichen und Verbessern des Lebenszustandes. Die Vernunft aber als menschliche Fähigkeit, Ideen und Ziele zu erkennen, zu entwickeln und als Lebensorientierungskriterien fürs Tun und Lassen anzubieten, kommt immer kurz Zum Einsatz. So gesehen, ist die oben geübte Kritik eher den Versand betrifft als die Vernunft, wobei diese aufzufordern ist, seine Funktion – auch im Sinne Alfred N. Whitehead – wahrzunehmen (*). Whitehead sieht die Aufrage der Vernunft darin, „dass sie die Kunst zu leben fördert“.
(*) Alfred N. Whitehead: „Die Funktion der Vernunft“
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