RE: Die schlimmsten Krankheiten: Erziehung, Sozialisation und vor allem Ego
Herzlichen Dank für diesen Artikel!
Das Ego ist ein schwieriger Fall, war es auch bei mir. Beim Studieren von Naturwissenschaften oder IT ist klar, dass man den Verstand braucht, um abstrakte Mechanismen, Algorithmen und Mathematik nachvollziehen zu können. Dort kann man auch gut die Grenzen des eigenen Verstandes erkunden. Eigentlich ist die Begrenztheit des Verstandes und des Egos offensichtlich. Wer versucht, seine zufälligen Begegnungen, die er täglich macht, zu planen und durchzudenken, merkt, dass er nicht darum herumkommt, der Spontanität und Intuition genügend Raum zu geben, um sich auf unerwartetes rasch einstellen und aus Begegnungen viel mitnehmen zu können, um letztlich ein erfülltes Leben zu haben.
Dann noch eine Anmerkung, ich bin Chemiker, der sich über sich selber viele Gedanken gemacht hat, Psychologe oder Psychiater bin ich definitiv nicht, aber versuche, mir vieles verständlich zu machen. Die folgenden Abschnitte sind ziemlich deutlich geschrieben, aber er beinhaltet das, was ich bisher glaube, verstanden zu haben. Ich habe in dieser Sache kein sogenanntes Urvertrauen, bin also voll auf mich selbst angewiesen.
Es besteht die akute Gefahr, dass der Verstand und das von ihm produzierte Ego die Kontrolle über den ganzen Menschen erlangt, was zu einer wahren inneren Tyrannei werden kann. Dazu gibt es heute fast unbegrenzte Möglichkeiten, sich von sich selber abzulenken via externe Stimulation und Konsum. Man kann sein ganzes Leben auf eine Weise führen, ohne je bei sich selber anzukommen und sein eigenes Wesen zu verstehen und es wirklich aushalten zu müssen. Ich habe schon viele (unglückliche, aber dogmatische) Erwachsene erlebt, die von sich selber keine Ahnung hatten, die in ihren Reden gar keinen Platz hatten. Als Meinung plappern sie das auswendig nach, was ihnen TV-Radio-Zeitung verkünden. Für mich ist klar, dass ich von solchen Menschen vielleicht spezifisch über ein Fach lernen kann, aber nichts über das Leben. Dies gilt u. a. für sehr viele der Menschen der Generation meiner Eltern (ca. Jahrgänge 1945-1965), die ich kenne und von solchen ich erzogen wurde. Bei jüngeren ist es oft nicht besser, aber die haben mich zumeist nicht erzogen und stellen sich eher mal Fragen.
Wenn solche Leute über psychische oder nervliche Probleme klagen und teilweise davon reden, dass alles nur «Kopfsache» sei - «der Geist ist willig, das Fleisch ist schwach» - bietet sich mir meist ein Bild, dass diese Leute sich selbst gar nicht ertragen können und auf der Flucht sind. Dass sie nicht verstehen, wie ihr Körper funktioniert und ihr Energiehaushalt. Statt von Erholung reden sie von «abschalten». Was wollen sie abschalten? Solange man als Mensch funktioniert, kann man gar nichts abschalten, nur verstehen und damit klarkommen. Wer sich in ein Gefängnis begibt, etwa durch die Tyrannei des eigenen Egos, was meist unbewusst und durch die (staatliche) Erziehung geschieht, braucht sich nicht wundern, wenn ihm dieses eines Tages öde vorkommt. Davon lösen kann man sich, indem man das Gefängnis zerstört.
Es gibt ein schönes Zitat von Osho, von dem ich zwar nicht viel weiss, aber das folgende Zitat hat mich wirklich beeindruckt. Weil es zeigt, wie man nachhaltig soviel aus sich selber schöpfen kann. Dass man nicht darauf angewiesen ist, andere auszusaugen und keinen Drang verspürt, andere zu kontrollieren. Dass man wirklich geben kann und auch mit Begegnungen klarkommt, die vielleicht nicht ausschliesslich positiv sind.
«Die Fähigkeit, alleine zu sein, entspricht der Fähigkeit, zu lieben. Es mag paradox erscheinen, doch das ist es nicht. Es ist eine grundlegende Wahrheit. Nur jene, die allein sein können, können lieben, können teilen, können zum tiefsten Kern einer Person durchdringen, ohne sie zu besitzen, ohne abhängig vn ihr oder süchtig nach ihr zu werden. Sie erlauben anderen die volle Freiheit, denn sie wissen, wenn sie verlassen werden, sind sie genauso glücklich wie vorher. Ihre Freude kann nicht genommen werden, weil sie nicht von anderen stammt.»
Zitat gefunden mittels Google-Bildersuche "osho allein sein lieben", sonst weiss ich nicht, wo es zu finden ist.
Das ist unfassbar, was du da schreibst, danke!
Was mich vor allem beeindruckt: "Man kann sein ganzes Leben auf eine Weise führen, ohne je bei sich selber anzukommen und sein eigenes Wesen zu verstehen und es wirklich aushalten zu müssen"
Genau das stelle ich bei so vielen Menschen fest, seitdem ich bei mir selbst diesen Zustand erkannte. Mein Leben zog früher an mir vorbei, wie ein Film, ohne zu merken, dass ich das Geschehene nicht einfach über mich ergehen lassen muss. Es gibt viel mehr, als das was ich sehe, höre und angreifen kann. Ich nenne es Gegenwärtigkeit, Bewusstheit und Achtsamkeit. Ich kann hinter die Kulissen spüren und erkenne dabei meine wahre Natur.
Dass ich dafür erst Depressionen erleben musste, erscheint mir mittlerweile wie ein Geschenk. Klingt vielleicht eigenartig, weil Depressionen alles andere als lustig sind. Aber ohne sie, würde ich immer noch wie ein sehender Blinder durch's Leben laufen.
Ich danke dir für deinen tollen Kommentar!
Ich hoffe, dass das unfassbar nicht auf Schockzustände beim Lesen hindeutet...
Den dritten Abschnitt deiner Antwort finde ich sehr beeindruckend. Wer sagt, wie im kleinen, so im grossen, kommt eigentlich kaum darum, auch kleine Dinge zu beachten und wertzuschätzen.
Normalerweise möchte ich nicht Kommentare schreiben, die fast so lang oder gar länger sind, als der Artikel selbst. In diesem Fall habe ich einfach viel zusammengebracht, was ich sicher auch in einen eigenen Artikel einbauen kann.
Nein :) Das "unfassbar" bezieht darauf, dass du ein an sich hochkomplexes Thema in wenigen Absätzen absolut verständlich auf den Punkt bringst.
Du scheinst nicht nur sehr viel Lebenserfahrung zu besitzen und/oder sehr viel über das Leben nachgedacht zu haben. Darüber hinaus verfügst du über analytische Fähigkeiten und bringst das auch noch in beeindruckender Form kompakt in einen Text unter.
Echt beeindruckend!