Ein fast vergessener Bezug

in Deutsch Unplugged2 days ago (edited)

Ein fast vergessener Bezug zum Sein

„Ich bin Ästhet“, sagte er ganz ohne Aufregung, aber mit Bestimmtheit. Er sagte es nicht einmal ausdrücklich zu mir, er stellte es mehr in den Raum oder sprach vielleicht sogar ermahnend zu sich selbst, wie eine Erinnerung, eine Selbstbesinnung. Und wumm!, das hatte in meinen Ohren regelrecht gedröhnt.

Es muss etwa zwanzig Jahre her sein, eher ein paar mehr. Ich war bei einem Kunden und baute IT-Ausstattung auf: mehrere Arbeitsplätze mit Rechner, Bildschirm (damals brauchte man pro Arbeitsplatz nur einen…), Tastatur, Maus und deren Matte (ja-ja, so war das), Stromkabel, Netzwerk-Kabel. Die Sachen waren nicht neu, sondern umgeräumt worden aus anderen Arbeitszimmern des selben Kunden, und so waren sie auch ein bisschen zusammen oder vielmehr durcheinander gewürfelt.

Ich achtete beim Aufbauen und Verkabeln mehr auf technisches Zusammenpassen als auf die Farben von Oberflächen. Und prompt kam ein schwarz umrahmter Monitor zusammen mit einem hellen PC-Gehäuse auf den Tisch, vielleicht war es auch umgekehrt, da bin ich jetzt nicht mehr sicher. Und durch das ganze Chaos, das ich gerade einigermaßen im Griff zu haben glaubte, da hindurch griff dieser Typ, den ich damals noch nicht kannte, plötzlich in die Sachen rein und haute mir seinen Satz um die Ohren.

Eine direkte Antwort gab ich ihm nicht, dazu war ich zu verblüfft, aber ich ließ ihn gewähren beim Umstellen von zwei, drei Elementen, die dann irgendwie wieder Farb-Konkordanz herstellten. Derweil musste ich für mich innerlich klären, ob das ein Eingriff in meine technische Expertise darstellte und ob es für mich zeitlich drin gewesen wäre, mich mit Fragen des Anordnens von solchen Objekten zu befassen, die nach meiner Meinung eigentlich nicht schöner werden dadurch, dass man sie nach Oberflächen-Farben sortiert.

Beim Nachdenken rieb ich mich vor allem an seiner Formulierung: „Ich bin Ästhet.“ Er gab mir also nicht einfach einen Hinweis, dass es ihm so und so besser gefallen würde, er spielte nicht eine persönliche Ansicht oder seinen privaten Geschmack aus, sondern er konfrontierte mich mit seiner Identität, mit seinem Sein: „Ich bin Ästhet.“ Das war stark und selbstbewusst, und das imponierte mir. Das Nachdenken zog sich über Wochen, Monate, Jahre.

Wer von sich sagt, er oder sie sei Ästhet, gibt zu verstehen, dass das Schöne ein integrativer, unverzichtbarer Teil seiner Lebensweise ist, nicht bloß etwas Beiläufiges, Hinzutretendes. Wer von sich sagt, er oder sie sei Ästhet, macht Gestaltung und Harmonie in den Sinnes-Wahrnehmungen für sich systemrelevant. „Ich bin Ästhet“ bedeutet dann, seine Umgebung im Rahmen der eigenen Möglichkeiten so zu beeinflussen, dass nicht die schiere Nützlichkeit despotisch regiert und man sich ihr gedankenlos unterworfen hat. Es bedeutet nicht bloß, dann und wann mal etwas Hübsches zuzulassen oder als Beiwerk aufzustellen wie Nippes in einem Setzkasten, sondern Ästhetik hoch zu halten als eine conditio humana, eine Bedingung des Menschseins selbst.

Das alles war mir nicht wirklich neu an diesem damaligen Tag vor gut zwanzig Jahren, ich hatte es aber beim technisch dominierten Arbeiten nahezu vergessen, und er hatte es mir mit drei Wörtern rasch und nachdrücklich zumindest so weit in Erinnerung gebracht, dass ich von dort aus jenen Punkt wieder gewinnen konnte, der mir sonst vielleicht ganz verloren gegangen wäre. (Vor fünfzehn Monaten verstarb er sehr plötzlich, und diese Sätze hier hätte ich gerne zu seiner Gedenkfeier beigesteuert, aber es war mir nicht möglich, den Termin wahrzunehmen.)

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Foto: Wolfgang Kroke (glaube ich)

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Wie kannst du nur... ...die Farben unstimmig aufbauen? :D Hätte mich auch getriggert, wenn dann ein weißer Monitor bei einem schwarzen PC Gehäuse und ein schwarzer Monitor bei einem weißen PC Gehäuse stehen würde^^ Aber ja, kann der Kunde ja nachher selbst umstellen (theoretisch), wie es ihm gefällt ;)

Mein erster PC war der damalige, den mein Vater im Hotel verwendete. Als dieser ausgetauscht wurde, bekam ich den Alten. Win95 lief da drauf. Hab Monitor und alles selbst angeschlossen, war nicht schwer: für den Bildschirm gab es nur einen Anschluss, Maus und Tastatur war derselbe, vom technisch-aussehenden her, nur die Farben waren anders: Tastatur violett und violetter Anschluss, Maus grün und grüner Anschluss.
Für den, der es dann noch nicht geachnallt hat, sind auch die Piktogramme auf den Anschlüssen am PC enthalten ;)

Das Einzige was ich nicht konnte: Vom BIOS aussteigen, nachdem ich beim Start aus Langeweile random Tasten gedrückt hatte xD Da musste dann mein Vater helfen ;)

Übrigens: Die Mausmatte von diesem PC habe ich heute noch in Verwendung, auch wenn es sie nicht zwingend braucht :) kann mich nicht von dieser trennen^^


Edit:
Bin heutzutage immer noch total verwundert, wie der mit den paar MB RAM arbeiten konnte. Selbst die Festplatte hatte nichtmal eine Kapazität von 1 GB - und trotzdem war da das Betriebssystem drauf, die Office-Programme und weiteres und es war immer noch genügend Speicherplatz frei xD

 yesterday 

Bin heutzutage immer noch total verwundert, wie der mit den paar MB RAM arbeiten konnte. Selbst die Festplatte hatte nichtmal eine Kapazität von 1 GB - und trotzdem war da das Betriebssystem drauf, die Office-Programme und weiteres und es war immer noch genügend Speicherplatz frei

Genau!
Und zum Installieren von Software hatten wir Disketten zu je 1,2 MB (M!), wenn auch manchmal ein Dutzend davon für eine Anwendung.
Als in meinem Umfeld die erste 1-GB-Platte aufgetaucht ist, war das eine Sensation, und wir haben sie alle bestaunt. (Obwohl es natürlich äußerlich nix zu sehen gab.)

Disketten müsste ich auch noch welche herumliegen haben :D habe ich damals auf meinem Win95 nicht verwendet, hab aber noch einen älteren PC zu Hause stehen mit Diskettenlaufwerk, nutz ich halt nie, läuft TinyCore drauf, damit bekomme ich die Disketten noch auf ;) sind halt Sachen vom Hotel drauf, müsst ich aber nochmals ansehen, um genaueres sagen zu können, was drauf ist. Wird vermutlich nicht passieren, weil ich keine freie Steckdose für den PC habe^^

 2 days ago 

Da bin ich dem Herrn direkt dankbar, daß er den kleinen Ästheten in Dir wieder geweckt hat... ;-))

Hörst Du mich im übrigen staunen...? Wolfgang hatte eine Kamera?

 yesterday 

Ja, Wolfgang hat auch Fotos gemacht.
(Aber von Wolfgang war im Text natürlich nicht die Rede.)

 yesterday 

Natürlich nicht, ich stolperte nur über das Foto ;-))

 yesterday 

The aesthete :

 yesterday 

Also den würde ich einen Stutzer nennen ;-))