Mitgefühl und soziele Medien - oder Mitgefühl nur wenns passt?
An diesem Kommentar beklagt ein Journalist das fehlende Mitgefühl bei den Kommentatoren in den sozialen Medien über den toten Jungen Julen in Spanien und zwei Streithähne, die vor die U-Bahn gefallen sind.
http://www.nordbayern.de/region/nuernberg/soziale-netzwerke-wo-mitgefuhl-uberbewertet-wird-1.8545885
Die normale Reaktion auf derzeitige Nachrichten wären Bestürzung, Betroffenheit, Anteilnahme, Mitgefühl. Zwei Jugendliche werden nach einem Abend in der Disco aus dem Leben gerissen. Ein kleines Kind stürzt in einen Brunnenschacht und stirbt. Man mag sich gar nicht ausmalen, wie unendlich groß die Qualen von Eltern, Angehörigen und Freunden in diesen Fällen sein müssen.
Ja, für die Angehörigen ist das schlimm. Aber warum berichten die Journalisten dann so groß darüber? Damit es noch schwerer wird?
Lassen wir mal die Streithähne beiseite: Ich glaube es verging nicht ein Tag, an dem nicht über den spanischen Jungen Julen "berichtet" worden ist. Mindestens die Hälfte dieser Artikel hatten den Informationswert von "Hat sich nichts geändert". Und das auch noch, wo eigentlich jedem klar war, dass da nichts mehr zu retten ist.
Warum also dieses Breittreten des Falles in den Medien? Die einzige logische Erklärung ist, das dort jemand von Bestürzung, Betroffenheit, Anteilnahme, Mitgefühl finanziell profitieren wollte.
Was ist schlimmer? Wenig Mitgefühl, oder Mitgefühl ausnutzen?
Des Weiteren sollte man nicht vergessen, dass jedes Gefühl ein Ende hat. Man kann sich nicht endlos freuen, man kann nicht endlos weinen. In Anbetracht der Tatsache, was die journalistischen Medien uns tagtäglich auftischen, sollten zumindest diese Gefühle täglich schon bei der Zeitungslektüre ausgelaugt sein. Ich hatte z.B. heute 2 Morde und "mehr als 1000 Vergewaltigungen" in der Zeitung.
Mit dies im Hinterkopf vergleichen wir mal den Julen mit einem anderen traurigen Ereignis.
Julen war ein kleines Kind, das in einem Unfall gestorben ist. Er ist in ein Bohrloch gefallen.
Ich kenne Julen nicht. Ich habe keinerlei Verbindung zu ihm. Und ich habe wirklich keinerlei Einfluss auf die Absicherung von Bohrlöchern in Spanien und konnte so etwas sicherlich nicht voraussehen oder verhindern.
Ich habe aber, als (wahlberechtigter) Bürger Deutschlands Einfluss auf die Politik dieses Landes. Eine Politik, die wissentlich Entscheidungen trifft, die Menschenleben kosten werden. Sei es bei Waffenexporten oder bei der "Migrationsdebatte".
In Spanien ist ein Mensch in einer Situation gestorben, auf die ich nicht den geringsten Einfluss hätte haben können.
Im Mittelmeer sind bereits im ersten Monat diesen Jahres mehrere hundert Menschen, darunter sicherlich auch zweijährige Jungen, gestorben. Wegen einer Politik, die diesen Menschen das Nutzen eines weniger gefährlichen Weges absichtlich schwerer bis unmöglich macht.
Unabhängig wie man zu dieser Migration steht: Die Toten sind das vorhersehbare, logische Ergebnis einer politischen Entscheidung hier in Europa.
Eventuell hätte ich dort etwas tun können. Sehr unwahrscheinlich, aber eventuell. Habe ich zum Beispiel für die Seenotretter gespendet? Habe ich gegen die politischen und juristischen Angriffe auf die Retter reagiert? Gehe ich der Bundesregierung auf die Nerven, die Leute nicht länger ersaufen zu lassen?
Oder, für Migrationsgegner: Habe ich politischen Druck gefordert auf z.B. Syrien, dass die Leute in den Lagern dort auch ordentlich versorgt und behandelt werden? Bin ich gegen Waffenexporte auf die Straße gegangen? Tue ich etwas gegen den Klimawandel als inzwischen Hauptursache für die (grenzüberschreitende) Migration von Menschen? usw.
Ich möchte nicht von Schuld sprechen - aber sicherlich habe ich mehr Verantwortung für die Toten im Mittelmeer als für den Jungen. Für ein paar Hundert Tote.
Vielleicht sind dadurch Bestürzung, Betroffenheit, Anteilnahme, Mitgefühl einfach nur aufgebraucht, so dass ich nichts mehr für einen ganz normalen (wenn auch nicht alltäglichen) Unfall übrig habe?
Disclaimer: Es geht mir hier nicht darum zu sagen, dass die "kaltherzigen" Kommentatoren in den sozialen Medien Recht hätten. Gerade in den "sozialen" Medien geht es sehr oft ziemlich unsozial zu.
Doch der Punkt, den ich hier für bemerkenswert halte, ist der POV des Journalisten.
Journalisten haben zu berichten. Tatsachen. Sie können, wie hier in einem Kommentar, auch durchaus Meinungen sagen. Doch oft sind diese Meinungen eben geprägt von einem gerade nicht professionell "neutralen" Standpunkt. Es ist der Standpunkt des Journalisten.
Und in diesem Falle scheint mir sehr deutlich zu sein, dass dieser Journalist anderen seine eigene Betrachtungsweise und Gewichtung vorschreiben möchte: Ihr habe gefälligst über Julen traurig zu sein! Denn wir Journalisten haben gesagt, dass dies etwas bedeutendes ist, etwas, für das ihr Mitgefühl haben müsst!!
Es schwingt hier das alte Dünkel das "Wir entscheiden, was eine Nachricht ist" mit. Unfälle passieren. Ob das ein spanischer Junge ist, der in einem Bohrloch stirbt, oder das afrikanische Mädchen, das von einem Elefanten totgetrampelt wurde. Oder der Mann in Xijuang, der auf "Nichts" ausgerutscht und sich dabei das Genick gebrochen hat.
Alle drei Dinge haben den gleichen "Anteil" an meiner Bestürzung. Warum sollte ich für einen davon mehr Bestürzung über haben, nur weil die Zeitungen wochenlang darüber berichten?
Ich hoffe, ihr habe verstanden, worauf ich hinaus möchte. Es ist nicht einfach etwas zu erklären, dass im Allgemeinen "unsichtbar" ist, weil es alltäglich oder (scheinbar) selbstverständlich ist.
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